An der Kassler Jakob-Grimm-Schule sind am 29./30. April 2025 zahlreiche sogenannte „Abi Plakate“ beschädigt und zerstört worden. Abi-Plakate werden traditionell von Familien und Freunden der Abiturient*innen aufgehängt, um ihnen Mut und Unterstützung für die anstehenden Prüfungen zuzusprechen. Laut der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) wurden vor etwa 25 Jahren erstmals Plakate an Kassler Schulen aufgehängt. Die Plakate sind aufwändig, mit viel Liebe und Kreativität gestaltet.
Tabuisierte Gewalt
Dass die Plakate nun mutwillig zerstört und angezündet wurden, ist für die Abiturient*innen belastend aber vor allem auch erschreckend und erschütternd, denn diese ungezügelte Wut richtet sich so explizit gegen sie, eine Gruppe junger Menschen, die in diesen Tagen ihre Abschlussprüfungen schreiben und daher auch besonders belastet und gefordert sind. Die Hessenschau hat hierzu berichtet. Aus Sorge vor weiterer Zerstörung und Brandstiftung hat die Schule die noch übrigen Plakate nun abgehängt. Allerdings ist es nicht nur bei den beschädigten Plakaten geblieben, sondern in der Schule finden sich auch zahlreiche extrem rechte, neonazistische, rassistische und queerfeindliche Schmierereien (s. Fotos). Hierzu ist im Beitrag der Hessenschau leider nichts zu lesen und auch in der lokalen Zeitung (HNA) findet sich bisher (Stand: 01. Mai 2025) kein Bericht.
Die hier transportierte Wut, der Rassismus, die Queerfeindlichkeit und der Hass richten sich damit gegen junge Menschen, die nicht nur derzeit Abitur schreiben, sondern sich engagieren in der Bewegung Fridays for Future, im Jugendparlament der Stadt Kassel, in der evangelischen Jugend uvm. – es ist ein Engagement für Diversität und Menschenrechte, für eine offene und vielfältige Gesellschaft, das hier angegriffen wird. Die Schmierereien richten sich nicht nur gegen die Schüler*innen, sondern gegen die Schule selbst.






Anstieg extrem rechter Gewalt
Die Zahl extrem rechter Gewalttaten ist laut einer Abfrage des stern bei den Landeskriminalämtern der Bundesländer im vergangen Jahr gestiegen und befindet sich auf einem Rekordhoch. Auch der Deutschlandfunk berichtete. Die Zahlen haben sich in einigen Bundesländern verdoppelt, in Sachsen-Anhalt gar um 150 Prozent. Spitzenreiter ist Brandenburg mit 336 Fällen. Die meisten der registrierten Taten sind das Verwenden von verfassungswidrigen Symbolen, wie das Einritzen von Hakenkreuzen oder das Zeigen des Hitlergrußes – solche neonazistische Positionen werden auch an der Jacob-Grimm-Schule durch die Schmierereien sichtbar. Laut Bericht des sterns werden aber auch rechtsextreme Chatnachrichten zunehmend zum Problem. Laut Angaben der Landeskriminalämter fließen in die Statistik extrem rechte Gewalttaten auf dem Schulgelände insgesamt mit ein, unabhängig von den Verursacher*innen. Rechte Gewalttaten an Schulen beziehen sich entsprechend nicht ausschließlich auf Straftaten, die von Schüler*innen (der betroffenen Schule begangen wurden), sondern umfassen auch Übergriffe von außen – so wie mutmaßlich bei der Jacob Grimm Schule in Kassel.
Die extrem rechten, rassistischen und queerfeindlichen Straftaten werden im Fall der Jacob-Grimm Schule jedoch gar nicht als rechtsextrem dokumentiert, da in Hessen (wie auch in Baden-Württemberg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen), rechte Straftaten an Schulen nicht gesondert erfasst werden. Ein Umstand, der sich dringend ändern sollte, wie der aktuelle Vorfall zeigt. Hier ist die Landesregierung – insbesondere Innenminister Roman Poseck (CDU) und Armin Schwarz (CDU) Minister für Kultus, Bildung und Chancen – aufgefordert sowohl rechte Straftaten auf Landesebene auch als solche zu erfassen sowie Maßnahmen zu ergreifen, Schulen und Schüler*innen stärker vor extrem rechten Übergriffen zu schützen.
Verharmlosung von Ideologien der Ungleichwertigkeit
Dass die Jacob-Grimm-Schule nun Ort extrem rechter Übergriffe ist, sollte ernstgenommen und gesondert untersucht werden: Die JGS ist in Kassel bekannt für ihre offenen und politisch engagierte Schüler*innen. Auch in der Vergangenheit haben sich Schüler*innen der JGS wiederkehrend politisch engagiert. Die Schule ist zudem ein Ort, an der sich Schüler*innen auch mit nicht heteronormativen Geschlechtsidentitäten sicher fühlen konnten. Schule, Stadt und die Kassler Zivilgesellschaft sollten den Vorfall nicht als harmlose „Zündelei“ (mutmaßlich von ein paar Jugendlichen) abtun, sondern eine Untersuchung des Vorfalls anstrengen. Eltern haben zudem bereits Strafanzeige gestellt.
Ein Nicht-ernst-nehmen des Vorfalls widerspricht der Forderung Adornos, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“ (Adorno 1971/2020, S. 88). Die Wahlerfolge der nun auch seitens ders Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem einzuordnenden Alternative für Deutschland (AfD) im Bund und in den Ländern sowie die empirischen Hinweise aus der repräsentativen Autoritarismusstudie, die im November 2024 erschienen ist, geben Anlass zur gesamtgesellschaftlichen Beunruhigung: Knapp 40 % der Befragten wünschen sich latent oder manifest „eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (Decker et al. 2024, S. 38). Dieses Item ist Teil der Skala, die Neo-NS-Ideologie misst. Zudem zeigen sich höhere Zustimmungswerte bei jüngeren Kohorten zu Antifeminismus und Heterosexismus (Zick et al. 2023).
Ideologien der Ungleichwertigkeit, zu der u.a. Rassimus, Antisemitismus, Antifeminismus, Sexismus, Queer- und Transfeindlichkeit, Ableismus zählen, beruhen auf „nationalistischer, völkischer Selbstübersteigerung, rassistischen Kategorien, soziobiologischen Behauptungen natürlicher Hierarchien, auf einer sozialdarwinistischen Betonung des Rechts des Stärkeren, totalitären Abwertungen von ,Anderssein‘ sowie einer Betonung von Homogenität“ (Heitmeyer 2020) und sind demnach zutiefst undemokratisch und menschenfeindlich.
Es zeigt sich auch in dem Vorfall an der Jacob-Grimm-Schule: Wir haben ein Problem mit extrem rechten Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft, unabhängig davon, welchem Spektrum die Täter*innen zuzuordnen sind. Ein Abtun des Vorfalls, das Stillschweigen über die extrem rechten Schmierereien und Anfeindungen bedeutet auch, dass weder das Ausmaß oder die dahinterliegenden Gründe, noch die betroffenen Abiturient*innen ernstgenommen werden. Wir wünschen den Schüler*innen der JGS bei ihren verbleibenden Prüfungen viel Erfolg und besonders Kraft angesichts der verstörenden Geschehnisse. Bleibt solidarisch und wachsam.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1971/2020). Erziehung nach Ausschwitz. In ebd. Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Decker, Oliver, Kiess, Johannes, Heller, Ayline & Brähler, Elmar (Hrsg.) (2024): Vereint im Ressentiment. Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen. Gießen: Psychosozial Verlag.
Heitmeyer, Wilhelm (2020): Rechte Bedrohungsallianzen. Berlin: Suhrkamp.
Zick, Andreas/Küpper, Beate/Mokros, Nico (2023): Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Als ehemaliger Schüler am JGS finde ich die Nachricht schockierend. Auch wenn der Ruf einer offenen und politisch aktiven Schüler*innenschaft natürlich nie auf alle zutraf, machte er das Schulleben doch auch aus. Und zugleich sollten Schulen Orte sein, an denen junge Menschen in geschützten Räumen lernen können und sich ausprobieren dürfen.
Es passt durchaus in das aktuelle gesellschaftliche Klima, dass eine Schule wie die JGS hier zum in das Visier gerät. Umso mehr ist dem Schluss des Beitrags beizustimmen: Bleibt solidarisch und wachsam.