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Den Wandel gestalten! Innovation – Transformation – Utopie in der Kinder- & Jugendhilfe

Mit der zweiten WerkstattTagung, die am 6. und 7. Juni 2024 in der neuen Denkerei in Kassel stattfand, knüpften wir an die Gründungsveranstaltung an. Unter dem Motto „Gesellschaftliche Transformation gestalten“ loteten wir vor zwei Jahren aus verschiedenen sozialpädagogischen Perspektiven aus, an welchen Stellen und wie die Soziale Arbeit, die Kindheitspädagogik gesellschaftliche Veränderungen trägt, aber auch selbst zu Akteur*in des gesellschaftlichen Wandels werden kann respektive bereits ist.

Trend-Thema Transformation 

Der Transformationsbegriff ist mittlerweile in aller Munde, er wurde in den letzten zwei Jahren sowohl in wissenschaftlichen, wie auch in politischen Kontexten en vogue, obschon Transformation, so könnte man sagen, ohnehin beständig passiert. Die Welt, die Gesellschaft, das Soziale verändert sich mit jedem Tag, es sind aber ganz bestimmte Transformationsprozesse, die für die Sozialpädagogik, für die Kinder- & Jugendhilfe, relevant scheinen. 

Wir erweiterten also den Tagungstitel durch die Aussage „Den Wandel gestalten“ und den leicht technisch anmutenden Transformationsbegriff durch die Zusätze „Innovationen“ und „Utopien“, um einerseits das konkret umsetzbare oder schon in Umsetzung begriffene zu adressieren und andererseits auch einen Raum zu eröffnen, gemeinsam, utopiefähig könnte man sagen, in die Zukunft zu blicken vor dem Hintergrund sich zunehmend bedeutsam zeigender Krisen 

Achtung Triggerwarnung … glokale Krisen

Die Welt ist im Wandel – global wie lokal: Es ist nicht mehr zu übersehen, dass das ungebremste kapitalistische Wachstumsstreben nicht nur lebensnotwendige Ressourcen verschwendet, überflüssige Produkte erzeugt, deren Produktion, Nutzung und Abbau wiederum zur Verschmutzung der Ozeane und Luft sowie zur Zerstörung lokaler Lebensräume beiträgt. Die Klimakrise wird zunehmend sichtbar und erfahrbar – etwa an den jüngsten Hochwasserereignissen im Süden Deutschlands. Es ist vorstellbar, dass die Folgen des Klimawandels, und damit die Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, zu neuen sozialen, sozialräumlichen Disparitäten führen werden und sich damit auch bestehende soziale Ungleichheiten global wie lokal verstärken werden. Globale Migrationsbewegungen auch aus Gründen der Klimakrise machen dies bereits sichtbar – Kriege um Land und Ressourcen, daraus resultierende Hungersnöte wie sie im Sudan bevorstehen, lassen radikal-konservative politische Kräfte und*oder je nach Region, terroristische rückwärtsgewandte Gruppen und deren Ungleichwertigkeitsideologien erstarken, die Andersdenkende verfolgen.

Rechtsruck und Ungleichwertigkeitsideologien

Gleichzeitig verunsichern die digitale Transformation und eine fortschreitende Globalisierung auch in vermeintlich sicheren Gebieten der Welt Lebensformen und Routinen. Deutschland ist eine diverse Migrationsgesellschaft und trotzdem stellen sich seit Jahrzehnten für Politik und Praxis damit verbundene ähnlich bleibende Herausforderungen. Institutionelle Diskriminierung und strukturelle Exklusion von Menschen mit Migrationsgeschichte sind in vielen Feldern der Gesellschaft noch immer an der Tagesordnung. Gleichzeitig bleibt das Potential gruppenbezogener Menschenfeindlichkeiten wie Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus stabil bei 20 % – v.a. Antifeminismus steigt in den jüngeren Altersgruppen an, und auch die Zustimmungswerte zu einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“ sind in der letztjährigen Erhebung der repräsentativen Mitte-Studie auf 6-8 % angestiegen. Menschen, die dieses teilen, befürworten u.a. eine Diktatur und vertreten nationalchauvinistische Einstellungen. 

Seit Anfang des Jahres die Recherchen von Correctiv.org die rassistischen Re-Migrations- respektive Deportationspläne der Neuen Rechten und die Beteiligung der AfD an diesen Plänen und Diskussionen bekannt wurden, gibt es glücklicherweise ein breites, erstarkendes zivilgesellschaftliches Engagement „gegen Rechts“, das die Problematik auf die Straße bringt. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass auch auf der Ebene der mittigen bürgerlichen Parteien ein Beitrag zu Migrationsfeindlichkeit geleistet wird – wie etwa an den Anbandlungen zwischen Ursula von der Leyen (CDU) mit der rechtskonservativen Ministerpräsidentin von Italien, Georgia Meloni sichtbar wird, die Pläne für weitere Asylrechtsverschärfungen vor den europäischen Außengrenzen besprechen, während Europa zunehmend abgeschottet und Seenotrettung weiterhin kriminalisiert wird.

Auch die Armutsquote in Deutschland steigt weiter: 16,8 % leben nach dem auf dem Mikrozensus basierenden aktuellen Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes in Armut; unter Kindern liegt die Quote bei 21,8 % und unter Alleinerziehende gar bei 43,2 %. Bürgergeld-Verschärfungen und schnellere Sanktionen wurden beschlossen, für diejenigen, die nicht in Arbeit gehen – dabei sind unter den Armutserfahrenen lediglich 5 % der Menschen arbeitssuchend. Die Realisierung der versprochenen Kindergrundsicherung steht noch immer aus.

Und die Soziale Arbeit?

Die lokalen Dienstleistungssektoren sehen sich nicht nur mit diesen gesellschaftlichen Transformationen, politischen Situationen, sondern dementsprechend mit diversen und komplexeren Hilfebedarfen der Adressat*innen konfrontiert – und mit einen Innovationsdruck zur Schaffung passender, bedarfsgerechter Angebote. Zugleich entstehen mit der höheren Nachfrage an sozialen Hilfen neue prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Sozialwesen: immer mehr Betreuungsangebote werden von Hilfskräften, Kinderpfleger*innen und/oder Ehrenamtlichen übernommen. Der Fachkräftemangel macht sich an allen Ecken und Enden in der Kinder- und Jugendhilfe bemerkbar und kann eine Deprofessionalisierung des Feldes befördern.

Kinder und Jugendliche, ihre Lebenslagen und Zukunftsperspektiven sind in aktuelle gesellschaftliche Transformationen eingewoben – und mit ihnen die Angebote und die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Das Aufwachsen wird immer diverser, aber auch widersprüchlicher und ungleicher. Wir stehen als Gesellschaft vor der großen Frage: Welche Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft haben und leben wir? Welche Verantwortung übernehmen die älteren Generationen für die Lebensmöglichkeiten der jüngeren Generationen? Und was können wir als Fachkräfte, als Vertreter*innen der Angebote und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, als Wissenschaftler*innen, angesichts dieser doch sehr negativ stimmenden Transformationen und nicht sehr rosigen Zukunftsaussichten beisteuern? 

Trotz oder wegen Kapitalismus …

Trotz oder wegen dem ungebremsten kapitalistischen Wachstums und den Folgen von zerstörten lokalen Lebensräumen und Klimawandel; wegen der digitalen Transformation, wegen fortschreitender Globalisierung und hieraus resultierenden Verunsicherungen wie einer erstarkenden rechten Szene; wegen den diversen und komplexen Herausforderungen, denen die Kinder- und Jugendhilfe gegenübersteht; wegen neuer prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Sozialwesen diskutierten wir die Frage danach, wie wir „den Wandel gestalten [können]! Welche Innovationen – Transformationen – Utopien in der Kinder- und Jugendhilfe“ bereits existieren oder welche es noch zu erfinden gilt.

Tagungsbericht: Gesellschaftliche Herausforderungen

Entgegen der ersten WerkstattTagung, die im klassischen Format einer wissenschaftlichen Tagung gehalten war, wollten wir diesmal möglichst viel Raum und Zeit für diskursive Verständigung und gemeinsames Weiterdenken eröffnen. Der erste Tag stimmte mit einer äußerst passenden Keynote von Gaby Flößer (TU Dortmund) zum Verhältnis von Politik, Wissenschaft und Sozialer Arbeit und den damit verbundenen sozialpolitischen Transfer-Anforderungen und deren Scheitern, auf die Problematik ein. Die Eingewobenheit Sozialer Arbeit aber auch Wissensproduktion in herrschende gesellschaftliche und politische Verhältnisse wurde deutlich und sie stellte mit Blick auf den Utopiebegriff in unserem Titel die Frage nach dem Weg zur Utopie. 

Es schloss eine Podiumsdiskussion an, bei der Carsten dos Santos (ViVA-Stiftung Kassel), Anja Kerle (ITES Kassel/Hochschule Voralberg), Gaby Flößer und Barbara Schramkowski (Duale Hochschule Baden-Würtemberg), moderiert durch Jessica Prigge (ITES Kassel/CAU Kiel), darüber diskutierten, ob und inwiefern Soziale Arbeit nachhaltig – im Sinne eines breites Nachhaltigkeitsverständnisses, sein kann oder bereits ist. Während Carsten dos Santos aus Trägersicht anhand vieler Maßnahmen deutlich machen konnte, wie es organisational möglich sein kann, diesbezügliche Nachhaltigkeits-Transformationen anzustoßen, erinnerte Barbara Schramkowski klimabewegt viele Fakten in Bezug auf die Klimakrise. Anja Kerle intervenierte klassismussensibel und erinnerte abermals an die Dimensionen sozialer Ungleichheiten, um nicht in Individualisierungen der Klimakrise zu verfallen. Die Diskussion fokussierte sich immer wieder auf die Thematik der Klimagerechtigkeit und dominierte darüber angerissene sozialpädagogische Fragen nach Bildungsprozessen, Selbstorganisation von Kindern und Jugendlichen oder sozialen Ungleichheiten. 

Dialogische Wissenstransformation

Am zweiten Tag sollte alles im Zeichen der Praxis stehen. Mithilfe der Bar-Camp Methode wurden Fragen seitens der Tagungsteilnehmer*innen aufgegriffen und in Kleingruppen bearbeitet. Anschließend starteten zwei Workshopphasen zu den Themen Fachkräftemangel, Rechtsruck und Klimagerechtigkeit. Uwe Josuttis (ITES Kassel), Desirée Roosingh (schrankenlos e.V., Nordhausen/ITES) zusammen mit Julia Besche (HAWK Holzminden/ITES), Mustafa Gündar (Streetbolzer e.V. Kassel), Stephanie Tiepelmann-Halm (schrankenlos e.V., Nordhausen) und Julian Sehmer (HAWK Holzminde/ITES Kassel) sowie Barbara Schramkowski bereiteten Impulse vor, die zum gemeinsamen Arbeiten und Weiterdenken der Themen anregen. Krankheitsbedingt mussten Verena Klomann (HS Darmstadt), Ronald Lutz (ITES Kassel) und Selina Bitzer (Berghäusle e.V.) leider absagen. 

In den Workshops kristallisierte sich die breite Diversität der Themen und Teilnehmer*innen (insgesamt lagen 49 Anmeldungen für beide Tage vor, wobei einige nur einen Tag kamen) heraus. Die Diskussionen machten zwar deutlich, dass sich zu den Themen Redebedarf andeutet, wir damit also den Zahn der Zeit trafen, jedoch ist der dialogische Anspruch – zumindest aus Sicht der Autorin die gleichzeitig Mitorganisator*in war – weniger gut gelungen, auch, weil uns am Ende der Tagung die Zeit fehlte, die Themen nochmals miteinander in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Gehalt zu stellen und zu diskutieren. Statt der Utopie arbeiteten wir uns, muss an der Stelle selbstkritisch gesagt werden, an den Themen ab – aber was ist schon eine Utopie ohne Kritik des Gegenwärtigen?

Steil gestartet endete die Tagung vermutlich für einige Kolleg*innen aus Wissenschaft wie Praxis eher desillusionierend oder ernüchternd, da ausgehend von der Notwendigkeit von Transformation die Utopie aber auch Fragen von Innovation in der Kinder- und Jugendhilfe eher marginal diskutiert wurden. Insgesamt war die Stimmung dennoch gut und wir freuen uns und bedanken uns bei allen knapp 49 Teilnehmer*innen, die die Tagung besucht, mitgedacht, mitdiskutiert und in den Dialog miteinander getreten sind.

Wir freuen uns über Rückmeldungen, Kritik und Lob, Verbesserungsvorschläge und Hinweise zur Tagung, gerne per Mail an kontakt@ites-werkstatt.de

Autor*innen-Profil
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Stephanie Simon ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit (ISEP) der TU Dortmund.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Armut und soziale Ungleichheiten, Deutungen von Bildung & Erziehung, Kindheitsforschung, qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung.

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