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Armutszahlen zwischen „Rekordhoch“ und „relativ gering“ – Kontroversen und Positionierungen zur aktuellen Armutsberichterstattung

Alle Jahre wieder: Alarmierende Befunde im Zuge der Armutsberichterstattung. 2019 waren rund 13,2 Millionen Menschen in Deutschland von Einkommensarmut betroffen, weist der kürzlich erschienenen Armutsbericht des Paritätischen Verbandes aus (Pieper et al. 2020). Folglich beträgt bei 13,2 Millionen Menschen das Haushaltseinkommen weniger als 60% des durchschnittlichen Einkommens aller Haushalte in Deutschland. Die Armutszahlen befinden sich demnach mit 15,9% auf einem Höchststand seit der Wiedervereinigung. Es wurde oder wird davon ausgegangen, dass die Auswirkungen der im Zuge der zur Eindämmung der Corona-Pandemie erfolgten wirtschaftlichen Maßnahmen, bei denen Arbeitsverhältnisse und Einkommensmöglichkeiten sich veränderten, den präsentierten „Armuts-Rekordwert“ aus dem Jahr 2019 in diesem Jahr um ein Weites übertreffen werden, da die aktuelle Situation soziale Ungleichheiten verschärfen wird, wie vielerorts prognostiziert wird (z.B. Dörre 2020).

Im Gegensatz zu der Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung (zuletzt BMAS 2017) teilte jedoch das Statistische Bundesamt jüngst zum Tag der Kinderrechte medial wirksam mit, dass seit 2010 die Armutszahlen von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren sinken (Destatis 2020). Die Zahlen des Statistischen Bundesamts beziehen sich ebenso auf 2019 und basieren auf der Berechnungsgrundlage der EU-SILC (European Union Statistics on Income and Living Conditions)[1]. Sie heben erstens hervor, dass unter-18-jährige im Vergleich zum Vorjahr 2,3 Prozentpunkte weniger gefährdet sind. Dieser Sachverhalt bot bspw. dem Spiegel Anlass zur Euphorie, der sodann titelte „Kinderarmut in Deutschland: Anteil gefährdeter Kinder sinkt stark“[2]. 15% aller Kinder in einem so reichen Land wie Deutschland als „relativ geringe“ Zahl im EU-Vergleich zu beziffern ist an Zynismus nicht zu übertreffen und kommt dabei einem Skandal gleich. In der Berichterstattung zu diesen aktuellen Zahlen wird zweitens zudem hervorgehoben, dass parallel zu den „sinkenden“ Zahlen nun die Quote an Kindeswohlgefährdungen und -meldungen steigt (Destatis 2020). Drittens wird darauf hingewiesen, dass 29% aller Kinder- und Jugendlichen gegenwärtig auf ihrem Bildungsweg in einer „Risikolage aufwachsen“.

Mehreres ist an dieser Zusammenstellung von statistischen Befunden irritierend: erstens ist das Sinken der Zahlen so verschwindend gering, dass eher von einer Stagnation der Armutsgefährdung respektive der Armutszahlen ausgegangen werden kann. Zweitens legt die Präsentation der zwei zentralen und eigentlich voneinander unabhängigen Befunde – weniger Armut, mehr Kindeswohlgefährdungen – die Lesart nahe, dass das zentrale gesellschaftliche Problem nun nicht mehr (finanzielle) Armut sei, sondern Kindeswohlgefährdung. Damit werden statt gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen verstärkt Eltern bzw. familiale Praktiken in den Blick gerückt. Dass sich in den vergangenen knapp zehn Jahren veränderte Praktiken der Jugendämter in Bezug auf Kindeswohlgefährdungsmeldungen etabliert haben (vgl. Marks et al. 2018), kann für die steigenden Zahlen eine Erklärung darstellen, die jedoch bei dieser brisanten Meldung nicht zum Thema gemacht wird. Drittens ist der Fokus auf Bildung in dieser Zusammenstellung irritierend: Auch wenn dieser Blick sicherlich anlässlich des „Tages der Kinderrechte“ Berechtigung hat, ist in Zusammenschau dieser hier im Fokus stehenden statistischen Befunde zu monieren, dass Bildungsungleichheiten damit ausschließlich mit familialen Faktoren begründet werden – denn weiterhin wird in der Berichterstattung erklärt: „Der Bildungsprozess von Kindern und Jugendlichen in Deutschland hängt allerdings von deren familiären Hintergrund ab. Die Autorengruppe Bildungsberichterstattung nennt drei strukturelle Merkmale – den Bildungsstand der Eltern, den sozioökonomischen Status der Familie sowie den Status der elterlichen Erwerbsbeteiligung- aus denen sich drei Arten von Risikolagen für den Bildungserfolg eines Kindes ableiten lassen: formal gering qualifizierte Eltern sowie die soziale und finanzielle Risikolage“ (Destatis 2020).

Soziale, bildungsbezogene und finanzielle Risikolagen werden getrennt voneinander dargestellt, haben aber letztlich einen gemeinsamen Nenner: Sie beziehen sich auf die vermeintliche „Leistung“ von Eltern, die sich in deren Bildungserfolg oder Erwerbsstatus niederschlägt. Im Zuge des Tages der Kinderrechte präsentiert das Statistische Bundesamt in diesem Kontext auch eine monetäre Investionssteigerung der Bundesregierung in den Bildungssektor (Destatis 2020). So präsentierte Statistische Befunde legen eine weitere Responsibilisierung von Eltern nahe und verschleiern, dass die bildungspolitischen Investitionen offensichtlich nicht ausreichend sind.  Stattdessen ist anzunehmen, dass die von der Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung genannten (elterlichen) Faktoren von den Institutionen bspw. in Übergangsempfehlungen relevant gesetzt werden und so Bildungsungleichheiten (re)produzieren.

Die Zusammenschau der vom statistischen Bundesamt präsentierten Befunde suggeriert somit, dass bildungspolitisch genug getan würde und die sinkenden Zahlen Grund zum Aufatmen bieten. Nun liegt es, folgt man*frau dieser Deutung, nur noch an Eltern, hier auch aktiv zu werden und ein Aufwachsen in Armut zu verhindern.

Der Verweis auf eine erforderliche gestärkte soziale und solidarische Infrastruktur wird im Diskurs um Armut häufig missbraucht, um eine bedarfsdeckende monetäre Leistung gegen Bildung oder Betreuung auszuspielen, konstatieren die Autor*innengruppe des Paritätischen Armutsberichts. „Eine gute, inklusive Schule hilft armen Familien noch nicht, angstfrei und auskömmlich über den Monat zu kommen“ (Pieper et al. 2020, S. 25), und gute Bildungsinfrastruktur erspart armutserfahrenen Kindern nicht das Aufwachsen in Armut, solange die Familie arm ist bzw. bleibt (ebd., S. 26). „Solange Geld und Einkommen in Deutschland tatsächlich die Schlüsselressource zur Absicherung des physischen Existenzminimus und zu Teilhabe darstellen, bleiben monetäre Transfers das Mittel schlechthin im Kampf gegen Armut“ (Pieper et al. 2020, S. 25).

Die Corona-Pandemie wirkt sich, davon ist auszugehen, wie ein Brennglas auf bereits bestehende Ungleichheitsverhältnisse aus. So wird die aktuelle Freude des Spiegels über die „relativ geringen“ Kinderarmutszahlen aus dem Vorjahr womöglich nicht lange anhalten. Die teils krisenhaften Situationen von Menschen in prekarisierten Lebensverhältnissen und existenziellen Notlagen haben sich im Rahmen der Corona-Pandemie vielmals zugespitzt. Gleichzeitig adressierten die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen Personen, die bereits vor der Krise erwerbslos und einkommensarm waren, nicht gezielt. Die im Zuge der Pandemie verteilten Spenden aus der Zivilgesellschaft schreiben die aktuellen Tendenzen einer privatisierten „Mitleidsökonomie“ (Kessl 2020) anstatt einer ausreichenden sozialstaatlichen Existenzsicherung weiter fort.

Die bislang unzureichenden armutspolitischen Akzentuierungen der Unterstützungsmaßnahmen in der gegenwärtigen Situation verdeutlichen den fehlenden Willen und die mangelnde Motivation der Regierung, sich für armutserfahrene Personen in Krisenzeiten zu engagieren. Dabei hätte eine gezielte Förderung einkommensschwacher Haushalte, insbesondere über die Erhöhung der SGB II-Leistungen, die wachsenden sozialen Ungleichheiten gezielt abmildern können, schlussfolgert der Paritätische Verband. Dies hätte, im Vergleich zu den Einkommenssteuerausfällen in Folge der Mehrwertsteuerabsenkung nur einen Bruchteil gekostet (Pieper et al. 2020, S. 24).

Der Paritätische Gesamtverband fordert in seiner Expertise unter anderem daher die Neubemessung der Hartz-IV-Regelsätze und deren Anhebung auf 644 Euro (statt aktuell 446 Euro), um das Existenzminimum abzusichern, die Stärkung der Arbeitslosenversicherung und eines Alterssicherungssystems sowie die Einführung einer Kindergrundsicherung, im Rahmen derer Kindergeld in existenzsichernder Höhe ausbezahlt wird. Mit diesen Maßnahmen könne es gelingen, so der Paritätische, dass die Einkommensarmut auf ein geringes abgesenkt wird und größtenteils überwunden wird (ebd., S. 26f.). Auch von Betroffeneninitativen werden in Bezug auf die aktuelle Pandemie-Situation ähnliche Forderungen an die Politik gestellt. Das Bündnis „Aufrecht bestehen“, ein Zusammenschluss von Erwerbsloseninitativen, fordert einen Corona-Zuschlag auf den Hartz-IV-Regelsatz von 100 Euro[3]. Der Vorstand des ver.di-Bundeserwerbslosenausschusses spricht sich für die Verlängerung der pandemiebedingten Ausnahmeregelungen im Grundsicherungssystem über den 31. Dezember 2020 hinaus aus, insbesondere für die Aussetzung von Sanktionen und für einen physischen Zugang der Leistungsberechtigten zum JobCenter und zur Agentur für Arbeit[4].

Skepsis an der Erhöhung der Sozialleistungen äußert hingegen beispielsweise der sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, der – wie in der Tagesschau zitiert wird – konstatiert, dass sich „soziale Probleme“ nicht durch zusätzliche Transferleistungen lösen ließen, sondern durch bessere Weiterqualifizierungsangebote[5]. Die Individualisierung von Armut als Folge struktureller Ungleichheiten und die Responsibilisierung der Bearbeitung bei den Betroffenen selbst zeigt sich also auch in Corona-Zeiten besonders deutlich: An das unternehmerische Selbst wird auch in Zeiten der globalen Krise und in Bezug auf Kinderarmut plädiert: Manage deine und die Krise deiner Kinder auch in Zeiten von COVID-19 selbst.

Also: Geld hilft gegen Armut – lässt sich nüchtern im Sinne des Paritätischen Gesamtverbandes feststellen. Soziale Ungleichheiten sind dennoch nicht nur das Ergebnis von unzureichendem finanziellen Kapital, sondern entstehen über Diskriminierungs- und Stigmatisierungsprozesse in der Gesellschaft. Legitimiert werden soziale Ungleichheiten aber maßgeblich über die Aneignung weiterer Kapitalsorten in den Bildungsinstitutionen. Solange eine Aneignung dieser über die Struktur der Institutionen, in denen sich nicht zuletzt die gesellschaftliche Struktur spiegelt, verstellt wird, werden Klassenverhältnisse über den meritokratischen Mythos legitimiert. Auch das wird insbesondere in der Corona-Pandemie deutlich. Dabei ist insbesondere in Bezug auf den Tag der Kinderrechte in den Blick zu nehmen, inwiefern es benachteiligende strukturelle Verhältnisse sind, die das Wohlergehen eines Kindes und seine Verwirklichungschancen einschränken.

Literatur

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) (2017). 5. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Berichte/5-arb-langfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=6 [Letzter Zugriff am 27. November 2020]

Dörre, K. (2020). Nicht jede Krise ist eine Chance. Jaconin Magazin, 17. April 2020. https://jacobin.de/artikel/klaus-dorre-corona-krise-chance/ [Letzter Zugriff am 27. November 2020].

Kessl, F. (2020). Die neue Mitleidsökonomie im Angesicht der Covid-19-Pandemie  In Am Böhmer, M. Engelbracht, B. Hünersdorf, F. Kessl, V. Täubig (Hrsg.), Soz Päd Corona. Der sozialpädagogische Blog rund um Corona. http://dx.doi.org/10.25673/33919 [Letzter Zugriff am 23. November 2020].

Marks, S., Sehmer, J., Hildenbrand, B., Franzheld, T. & Thole, W. (2018). Verwalten, Kontrollieren und Schuld zuweisen. Praktiken im Kinderschutz – empirische Befunde. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 16(4), 341–362.

Pieper, J., Schneider. U., Schröder, W. (2020). Gegen Armut hilft Geld. Der Paritätische Armutsbericht 2020.

Statistisches Bundesamt (Destatis) (2020). Pressemitteilung Nr. N 076 vom 19. November 2020 Online: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/11/PD20_N076_634.html [Letzter Zugriff 23. November 2020]


[1] Demnach ist Armut oder soziale Ausgrenzung gegeben, „wenn eines oder mehrere der drei Kriterien „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Entbehrung“, „Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung“ vorliegen“ (Destatis 2020), der Wert bezieht sich folglich auf Lebensverhältnisse im EU-Vergleich. Eine Armutsgefährdung wird in dieser Messung jedoch ebenfalls mit 60% des Haushaltsnettoäquivalenzeinkommen bemessen.

[2] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/kinderarmut-in-deutschland-anteil-gefaehrdeter-kinder-sinkt-stark-a-3a502759-9a7a-42c5-823c-fc49f19ad17d [Letzter Zugriff 23. November 2020]

[3] https://www.halloherne.de/artikel/aufrecht-bestehen-gegen-armut-und-ausgrenzung-47388.htm.

[4] https://arbeitsmarkt-und-sozialpolitik.verdi.de/ueber-uns/nachrichten/++co++20b421a0-07a7-11eb-b006-001a4a160100

[5] https://www.tagesschau.de/inland/armutsbericht-deutschland-101.html

Zitiervorschlag: Simon, S., & Kerle, A. (2020). Armutszahlen zwischen „Rekordhoch“ und „relativ gering“ – Kontroversen und Positionierungen zur aktuellen Armutsberichterstattung . Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_20201129_6

Autor*innen-Profil

Stephanie Simon ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit (ISEP) der TU Dortmund.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Armut und soziale Ungleichheiten, Deutungen von Bildung & Erziehung, Kindheitsforschung, qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung.

Autor*innen-Profil

Anja Kerle ist Hochschullehrerin in der Sozialen Arbeit an der FH Vorarlberg.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Armut, Kindheitspädagogik, kritische Soziale Arbeit, Dispositivanalyse und Machtanalytik, qualitative Sozialforschung (insb. Ethnographie und GTM)

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