Wohnungslos sein während einer globalen Pandemie − Ein Einblick in ausgewählte Perspektiven Betroffener von Wohnungslosigkeit
Wohnungslosigkeit ist ein Symptom extremer Armut, mit dem wir uns alle regelmäßig konfrontiert sehen. An Menschen, die auf der Straße leben oder einen Großteil ihrer Zeit dort verbringen, vorbeizugehen oder auch mal ein paar Cent oder Euros in einen zerdrückten Kaffeebecher zu werfen, gehört zum städtischen Alltag.
Die Wege in die Wohnungslosigkeit sind vielfältig und komplex. Neben dem Verlust des Arbeitsplatzes, psychischen und physischen Problemen, sind es auch vermehrt EU-Bürger*innen, die in Deutschland in Notlagen geraten. Diese fallen durch das Raster des Sicherungs- und Unterstützungssystems, da sie keinen Anspruch auf Leistungen haben.[1]
Dunkelziffer Wohnungslosigkeit
Bisherige Statistiken zur Anzahl von Menschen ohne festen Wohnsitz in Deutschland beruhten ausschließlich auf Schätzungen. Diese boten daher bisher nur eine sehr unzureichende Datengrundlage für Aussagen über die tatsächliche Anzahl von wohnungslosen Menschen in Deutschland.[2] In der Nacht vom 31. Januar 2022 auf den 01. Februar 2022 wurde erstmalig die Anzahl der wohnungslosen Menschen erfasst, die von Gemeinden oder Sozialträgern in Räumen oder Unterkünften untergebracht wurden. Die Grundlage dafür bildete das im Jahr 2020 verabschiedete Gesetz zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung in einer Stichtagserhebung.
Damit werden zwar nun systematischer verbindliche Daten erhoben. Trotzdem werden zunächst nur Personen erfasst, die in Unterkünften unterkommen und Kontakt mit Hilfseinrichtungen haben. Ein ergänzender Bericht soll helfen, durch Befragungen und Zählungen die Dunkelziffer der Menschen zu schätzen, die auf der Straße oder anderweitig bei Freund*innen etc. übernachten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) geht in ihrer aktuellen Schätzung aufgrund von Befragungen bei Hilfseinrichtungen für das Jahr 2020 von einer Jahresgesamtzahl aller Wohnungslosen von ca. 417.000 Menschen aus.[3]
Wohnungslosigkeit während einer globalen Pandemie − die Perspektive Betroffener
Aufgrund der massiven Einschränkungen durch die SARS-CoV2-Pandemie können für das Jahr 2020 gestiegene Armutszahlen aber auch eine gestiegene Anzahl verdeckter Wohnungslosigkeit angenommen werden. Mehr als ein Drittel der befragten Einrichtungen gaben an, Plätze und niedrigschwellige Angebote reduziert zu haben. Neben diesem vermuteten Problem eines quantitativen Anstiegs von Menschen, die ein Leben auf der Straße führen, interessiert insbesondere die Perspektive der Betroffenen. Es ist wahrnehmbar, dass sich das alltägliche Leben seit Beginn der Corona-Pandemie massiv verändert hat. So ist davon auszugehen, dass dies auch für Menschen ohne festen Wohnsitz der Fall ist.
Doch da die Lebensrealität wohnungsloser Menschen sich so deutlich von der Lebensrealität der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet, kann dieser Frage nur aus einer direkten Perspektive der Betroffenen nachgegangen werden. So sollen hier nur als Einblick und ohne Anspruch auf Repräsentativität die Blickwinkel von Rick, Michael und Jahya Gehör finden. [4] Sie wurden gefragt, ob sich ihr Alltag durch die Corona-Pandemie verändert hat und, wenn ja, inwiefern. Im Folgenden werden Ausschnitte aus diesen Gesprächen vorgestellt.
Eingeschränkte Zugänge für von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen
Wie auch schon viel von Wohnungslosenhilfevereinen und in anderen Medien beschrieben, spiegeln sich auch bei den hier in den Blick genommenen Perspektiven die Einschränkungen wider, die die Corona-Pandemie mit sich brachte. So erzählt beispielsweise Michael, dass in seinem Alltag insbesondere die Einschränkung des Zugangs zur Bibliothek, die er nutzt, um ein Buch zu schreiben, einen großen Verlust bedeutete:
„Am Anfang konnte ich in die Bibliothek gehen und etwas schreiben, jetzt nicht mehr. Ich laufe einfach nur rum, durch die ganze Stadt.“
Michael
Über die Nicht-Zugänglichkeit von Innenräumen berichtet auch Rick. Er sagt:
„Also das Schlimmste war, dass man nirgendwo reingekommen ist, um was zu essen. Bei Wind und Wetter draußen gestanden hat.“
Rick
Unsicherheiten bzgl. der Impfempfehlungen
Zudem beschreibt Rick auch die Unsicherheit, die entstand, als die Impfkampagnen starteten. Deutlich wird hier eine Intransparenz wahrgenommen:
„Und ja keiner wusste wirklich, wie geht man damit um. Wie oft muss man sich impfen lassen. Ich bin jetzt dreimal geimpft. […] Ja also. Das waren Sachen, einmal hieß es einmal, dann hieß es dreimal, ich frag mich nur, wann geht es auf fünf.“
Rick
Diese Unsicherheit schildert auch Jahya:
„Beispielsweise: Ich hatte vier Impfungen, aber ich glaube nicht alle Leute müssen die Impfung mitnehmen. […] Nur die Leute die krank sind, aber nicht normale Menschen. Und das Problem ist jetzt, zu viele Leute hatten Angst die Impfung zu nehmen. Ich kenne zu viele Obdachlose, die haben keine Impfung. […] Man hatte Angst. Vor dem Tod. Oder krank zu werden. […] Und ich kenne viele Leute, die haben die Spritze bekommen und sind trotzdem krank mit Corona.“
Jahya
Vielerorts gab und gibt es große Impfaktionen. Die Äußerungen von Rick und Jahya zeigen aber auch, dass zum Teil die Kapazitäten fehlten. Vor allem, um dort auch spezifisch auf die unterschiedlichen Fragen und Bedenken der einzelnen Menschen einzugehen. Gerade diese Formen der Transparenz sind wichtig für Menschen, die weitestgehend von der normalen Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen ausgeschlossen werden.
Maßnahmen der Pandemie im Hintergrund
Neben diesen erwartbaren Berichten über die Einschränkungen und Unsicherheiten, die den Alltag seit der Corona-Pandemie bestimmen, lassen die Perspektiven jedoch auch eine weitere mögliche Beobachtung zu: Corona beeinflusst den Alltag von wohnungslosen Menschen nicht so sehr, wie bisher vermutet[5]. Auch andere, für die einzelnen Menschen schwerwiegendere Probleme lassen die pandemisch bedingten Veränderungen in den Hintergrund treten. Rick antwortet auf die Nachfrage, was sich außer dem anfänglichen draußen Anstehen für die Essenversorgung geändert hätte:
„Ja und überall Masken tragen, also ich krieg schlecht Luft so. Aber sonst großartig nicht viel, nicht wirklich.“
Rick
Und auch Michael antwortet auf die Nachfrage, was sich außer dem Wegfall seiner Bibliotheksbesuche geändert hätte, nach einer kurzen Pause mit „Nichts“. Zudem wird in den Interviews mit deutlich, dass momentan andere Aspekte im Vordergrund stehen, die nichts mit der Pandemie zu haben. So erzählt Michael viel über den tragischen Verlust seiner Ausweispapiere und die damit einhergehenden Konsequenzen und Jahya über seine Privatinsolvenz und die schwierige Suche nach einer Erdgeschosswohnung, die er wegen seiner Bandscheibenvorfälle dringend benötigt.
Ein weiterer Aspekt, den Michael im späteren Gespräch aufgreift, scheint für die Spezifität der Lebenslagen von Wohnungslosen noch bedeutsam. Der Aspekt wird zwar nur von ihm betont, es lässt sich jedoch vermuten, dass dieser auch für andere Menschen eine Rolle spielen kann. Er beschreibt die notwendigen Maßnahmen der Distanzierung als für seinen Alltag positiv:
„Von mir aus ist diese Distanzierung gut. […] Ich will nicht zu nah an die Leute drankommen, weil die sind nicht nur mit Corona infiziert, sondern was weiß ich was haben die irgendwie von der Straße geholt. […] Ja. Die meisten Leute sind nicht sauber genug.“
Michael
Wer wie Michael in Notunterkünften schläft und in niedrigschwelligen Essensangeboten seine Mahlzeiten einnimmt, ist, ohne dies vermeiden zu können, viel auf engem Raum mit anderen Menschen. Die Corona-Pandemie brachte mit sich, dass dort ebenso Abstands- und Hygieneregeln eingehalten wurden. Für Wohnungslose kann dies, wie die Äußerung von Michael zeigen, eine große Erleichterung sein. Diese machen eine Distanzierung möglich, die vor Corona verwehrt blieb.
Politische und praktische Handlungsnotwendigkeiten in Bezug auf Wohnungslosigkeit
Diese Passagen können nur einen kleinen ausgewählten Einblick in Teilaspekte des Alltags wohnungsloser Menschen geben. Aber sie bieten eine Kontrastfolie für die Frage, wie sehr sich ihre Perspektiven eventuell unterscheiden – oder wie nah sie doch auch den Empfindungen sind, die wir alle seit Corona erleben. Insbesondere sollen sie aber Menschen, die in massiver Art und Weise von gesellschaftlicher Exklusion betroffen sind und keine Lobby besitzen, eine Artikulationsmöglichkeit geben.
Dies verdeutlicht offensichtliche politische Interventionsmöglichkeiten in Bezug auf den Ausbau des sozialen Wohnungsmarktes und der vermehrten Schaffung von tatsächlich niedrigschwelligen Übergangsangeboten für Menschen, die von Wohnungslosigkeit betroffen oder bedroht sind. Auch lässt sich eine Vereinfachung des Leistungsbezugssystems fordern. Mit der nun anlaufenden statistischen Erfassung von Wohnungslosigkeit lässt sich auch argumentieren, dass die Soziale Arbeit in besonderer Art gefordert ist, weitere und direkte Angebotsstrukturen zu schaffen, um Menschen in Krisensituationen zu unterstützen.
In einem System, welches jedoch auch Sozialarbeiter*innen einem Standardisierungsdruck unterwirft und zur verbesserten Arbeitseffizienz zwingt (Zangerl 2021, S. 113), geht oft das verloren, was für die professionelle Arbeit wichtig ist: Die Perspektiven der Menschen anzuhören und ihre heterogenen Lebensrealitäten kennenzulernen, um so den individuellen Bedarfslagen gerecht zu werden.
Literatur
Scholz, Volker (2014). Die Zählung und die Erfassung der Bevölkerung in ihrer historischen Entwicklung Vom Römischen Imperium bis zur Reichsgründung 1871. Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg, 67(2), 45-53.
Sonnenberg, Tim (2021). Wohnungslosigkeit – Eine phänomenologische Analyse. In Dierk Borstel, Tim Sonnenberg Stephanie & Szczepanek (Hrsg.), Die „Unsichtbaren“ im Schatten der Gesellschaft – Forschungen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit am Beispiel Dortmund (S. 19-75). Wiesbaden: Springer VS.
Zangerl, Franziska (2021). Attraktivität und Effektivität des traditionellen Hilfesystems der Wohnungslosenhilfe am Beispiel Dortmund. In Dierk Borstel, Tim Sonnenberg Stephanie & Szczepanek (Hrsg.), Die „Unsichtbaren“ im Schatten der Gesellschaft – Forschungen zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit am Beispiel Dortmund (S. 93-128). Wiesbaden: Springer VS.
[1] Auch wenn eine trennscharfe Begriffsdefinition schwierig ist, werden hier unter ‚wohnungslos‘ Menschen gefasst, die nicht über den Zugang zu eigenem Wohnraum verfügen, das heißt, dass sie entweder bei Freund*innen, in Notunterkünften oder auf der Straße übernachten. Auf eine Differenzierung zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit wird verzichtet. Letztere fasst bisweilen nur die Menschen, die längerfristig auf der Straße leben (vgl. Sonnenberg, S. 22). Die Gemeinsamkeit beider Gruppen, dass sie wohnungslos sind und keinen konstanten überdachten Lebensraum haben, soll im Zentrum stehen (vgl. ebd., S. 23).
[2] Lange fanden Menschen ohne festen Wohnsitz in Bevölkerungsstatistiken keinen Niederschlag, da dort nur Menschen in Haushalten gezählt wurden (vgl. Scholz, S. 52) und seither blieb das Erfassen dieser Personengruppe eine kommunale ‚Kann-Leistung‘. Somit sind die Angaben unklar und die Dunkelziffer hoch.
[3] Von 2008 bis 2016 wurde ein deutlicher Anstieg der Jahresgesamtzahl beobachtet. Seit 2016 ist zudem in den Schätzungen der BAG W auch die Anzahl anerkannter Geflüchteter in Gemeinschaftsunterkünften bzw. dezentraler Unterbringung enthalten, da diese die Nachfrage am Wohnungsmarkt mit erhöhen. Sie werden gesondert erfasst aufgrund der verschiedenen Dynamiken von Wohnungslosigkeit, sind aber entsprechend in der Jahresgesamtzahl mit enthalten. Die im Jahr 2020 zu den Vorjahren beobachtete Rückläufigkeit der Gesamtzahl um ca. 39 Prozent beruht vor allem auf der seit 2017 resultierenden Rückläufigkeit in der Anzahl anerkannter Geflüchteter. Grafisch lässt sich dies gut hier einsehen.
[4] Die Autorinnen haben mit drei Personen gesprochen die ihnen durch ihre regelmäßige ehrenamtliche Arbeit gut bekannt sind, sodass ein Vertrauensverhältnis besteht. An Jahya, Michael und Rick geht ein herzlicher Dank für ihre Offenheit. Leider bestand nicht die Möglichkeit eine als weiblich gelesenen Person zu befragen, da diese weniger oder andere niedrigschwellige Angebote in Anspruch nehmen.
[5] So geht die Kurzexpertise im Armuts- und Reichtumsbericht davon aus, dass die Pandemie „[…] einschneidende Auswirkungen auf das Alltagsleben vieler Wohnungsloser […]“ (GISS 2020, S. 29) hatte. Die subjektiven Wahrnehmungen können sich jedoch – wie die hier genutzten Interviewpassagen zeigen – unterscheiden.
Friederike Thole
Friederike Thole ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ruhr-Universität in Bochum.
Herzlichen Dank für den wichtigen Beitrag und das zu Wort kommen der von Wohnungslosigkeit Betroffenen. Die Herausforderungen in Bezug auf den Schutz vor Corona unterscheiden sich, folgt man den Berichten, fast nur marginal. Aber dass so viele öffentliche Orte nur eingeschränkt nutzbar sind/waren, ist ein dramatisches Problem – auch für das Gefühl, sozial eingebunden zu sein, so stelle ich es mir vor…Beides ist ja wichtig: die verbesserte finanzielle Unterstützung und alles, was das angeht, aber auch Aspekte der Anerkennung, die die Mehrheitsgesellschaft nicht an den Status der Menschen koppeln sollte…