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Ganztag – Begabtenförderung statt Chancengleichheit

Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf dem Prüfstand (Teil I)

Kürzlich hielt ich einen Vortrag zum Thema Ganztagsschule anlässlich des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung. Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP war gerade unterzeichnet. Meinen Zuhörer*innen wollte ich die aktuellen Verlautbarungen zum Thema Ganztag nicht vorenthalten. Ich schaute also nach was die neue Bundesregierung plant. Basierend auf den Erfahrungen der vergangen Jahren ging ich zwar nicht davon aus, etwas Neues von inhaltlicher Relevanz bezüglich der Ausgestaltung des Ganztags zu lesen. Der „alte“ Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD hielt die Absicht zur Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung fest. Daneben gibt es noch ein Hinweis zum Fachpersonal, dass hierfür notwendig sei. Im Koalitionsvertrag 2013 fand sich lediglich unter dem Abschnitt Chancengerechtigkeit durch Bildung stärken ein Hinweis zu Ganztagsschulen. Was planen nun die die „Ampel“-Parteien für die kommenden Jahre? Welche Rolle spielt dabei Chancengleichheit?

Wir unterstützen Begabtenförderung

Im aktuellen Koalitionsvertrag ist dem Thema Ganztag ein ganzer Abschnitt gewidmet. Die Qualität sei wichtig, ebenso sei die Zusammenarbeit mit Ländern- und Kommunen auszubauen, die Mittel zur Umsetzung des Rechtsanspruchs sollen vereinfacht abgerufen werden – das Übliche eben. Dann wird es jedoch spannend und außergewöhnlich konkret:

„Wir unterstützen, fördern oder stärken Angebote wie „Kultur macht stark“, den MINT-Aktionsplan – insb. für Mädchen –, Sprachförderung und herkunftssprachliche Angebote, „Haus der Kleinen Forscher“, Mentoring und Patenschaften, Begabtenförderung sowie Sport- und Bewegungsangebote. Wir unterstützen zivilgesellschaftliches Bildungsengagement und die Einbindung außerschulischer Akteure“

Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen.

Das Thema Chancengleichheit bzw. der Ausgleich herkunftsbedingter Ungleichheiten kommt nicht mehr vor. Das ist überraschend, weil Ganztagsschule genau mit diesem Anspruch vor knapp 20 Jahren angetreten ist. Im Jahr 2003 verabschiedete die damalige Bundesregierung das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ . Hintergrund war auch die Erkenntnis der PISA-Studie 2000, dass in kaum einem anderen Industrieland der Bildungserfolg so maßgeblich von der „sozialen Herkunft“ der Schüler*innen beeinflusst wird, wie in Deutschland [i]. Durch bessere individuelle Fördermöglichkeiten und zusätzliche Lernangebote sollten Ganztagsschulen den Zusammenhang zwischen schulischen Bildungserfolg und der sozialen Herkunft mindern. Zweifelsohne ist dies ein hehres Ziel.

Forschungslage

Studien zeigen jedoch, dass Ganztagsschule schulfachbezogene Ungleichheiten nicht kompensieren konnte. Jedoch kann sie über zusätzliche Bildungsangebote die sozialen Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen steigern und Teilhabe ermöglichen [ii]. Forschungsarbeiten legen nahe, dass die Gestaltung und Konzeption des Ganztags und der Angebote vor allem der Grund ist, weshalb Ganztagsschule insgesamt nicht zum erhofften Ausgleich von Bildungsungleichheiten beiträgt: Die Qualität der Angebote ist oftmals verbesserungswürdig, Schüler*innen fühlen sich durch Förderangebote stigmatisiert [iii]. Nur bei einer entsprechenden didaktischen Gestaltung, in der das Spielen im Vordergrund steht und leistungsheterogenen Zusammensetzung können Ganztagsangebote auch Leistungsdefizite kompensieren [iv]. Dies ist jedoch an nur wenigen Ganztagsschulen der Fall. Der Koalitionsvertrag greift diese Erkenntnisse nicht auf. Stattdessen verabschiedet sich die neue Bundesregierung von der Zielsetzung, Bildungsungleichheiten kompensieren zu wollen. Mehr noch: Statt Chancengleichheit ist nun Begabtenförderung zu lesen.

„Haben die Chancengleichheit vergessen?“

Als ich dies nun meinen Zuhörer*innen präsentierte, herrschte große Irritation. „Haben die das vergessen?“ fragte eine Teilnehmerin. „Chancengleichheit ist Fixpunkt meiner Arbeit“, meinte ein andere. Natürlich hat niemand etwas gegen Begabtenförderung, „Kultur macht stark“ oder das „Haus der Kleinen Forscher[*innen]“. Aber es wirkt so, als wäre die Idee der Chancengleichheit durch die Idee der Begabtenförderung ersetzt worden. Chancengleichheit ist in Deutschland jedoch nach wie vor ein unerreichtes Ziel. Die Corona-Pandemie zeigt dies erneut wie unter einem Brennglas. Fairerweise kann man auch festhalten, dass im Abschnitt Startchancen-Programm auch sozial benachteiligte Schüler*innen besonders gestärkt und Schulsozialarbeiter*innen eingestellt werden sollen. Auch das Vorhalten herkunftssprachlicher Angebote kann als entsprechender Versuch gedeutet werden.

Chancengleichheit wird ausgespart

Aber auch in diesem Abschnitt werden Begriffe wie Chancengleichheit/-gerechtigkeit, Bildungsungleichheit auffällig vermieden. Mehr noch: Dort steht geschrieben „Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern [zu] ermöglichen“[i] und Benachteiligte besonders zu stärken. Dies ist jedoch nicht das Gleiche wie an dem Ziel der Chancengleichheit festzuhalten. Anders formuliert: Es geht darum, Schwächere zu stärken, aber nicht darum, ihnen die gleichen Chancen zu gewähren. Das kann als ein realistischer Blick der Politik bezeichnet werden, denn das Ziel der Bildungschancengleichheit ist nach wie vor unerreicht. Zweifelsohne sollen unterschiede qua Herkunft nach wie vor kompensiert werden. Es kann aber auch als Abkehr eines zu erstrebenden Ideals gelesen werden.

Matthäus-Effekt

Kombiniert mit der Tatsache, dass zugleich verstärkt in Begabtenförderung investiert wird, zeichnet sich eine Umkehr in der Ganztagspolitik ab. In der Bildungsforschung ist der Matthäus-Effekt wohl bekannt: „Wer da hat, dem wird gegeben werden“ (Matthaues 25). Inhaltlich wird damit beschrieben, dass Kinder und Jugendliche mit positiver Ausgangslage in Bezug auf Lernen größere Zuwächse erzielen. Wenn bildungspolitisch nun im Zentrum steht, Begabte besonders zu fördern, ist zu befürchten, dass die Schere zwischen den Schüler*innen weiter auseinandergeht.

Es bleibt interessant zu beobachten, wie die Praktiker*innen hierauf reagieren. Die Zuhörer*innen meines Vortrags scheint die neue Ausrichtung nicht zu überzeugen. Sie wollen sich weiter an dem Ziel der Chancengleichheit orientieren. Bevor wir uns den Luxus nehmen, Zeit und Ressourcen in die ohnehin privilegierten Schüler*innen zu investieren, sollten und müssen wir die sozial- und leistungsschwächeren unterstützen.


[i] Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (2021): Mehr Fortschritt wagen.

[i] Baumert, J., Stanat, P. & Watermann, R. (2006). Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit: Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden.

[ii] Sauerwein, M. N., Thieme, N. & Chiapparini, E. (2019). Wie steht es mit der Ganztagsschule? Ein Forschungsreview mit sozialpädagogischer Kommentierung. Soziale Passagen, 11(1), 81–97. https://doi.org/10.1007/s12592-019-00318-0

[iii] Sauerwein, M. & Heer, J. (2020). Warum gibt es keine leistungssteigernden Effekte durch den Besuch von Ganztagsangeboten ? Zeitschrift für Pädagogik, 66(1), 78–201. https://doi.org/10.3262/ZP2001078

[iv] Tillmann, K., Lossen, K., Rollett, W., Holtappels, H. & Wutschka, K. (2021). Wirkungen eines förderorientierten Lernarrangements im Ganztag auf die Entwicklung des Leseverständnisses von Schülerinnen und Schülern der vierten Jahrgangsstufe. In H. G. Holtappels, N. Fischer, S. Kielblock, B. Arnoldt & J. M. Gaiser (Hrsg.), Individuelle Förderung an Ganztagsschulen (S. 179–203). Beltz Verlagsgruppe.

 
Zitiervorschlag: Sauerwein, M. (2021). Ganztag – Begabtenförderung statt Chancengleichheit. Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf dem Prüfstand (Teil I). Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_20211230_11
Autor*innen-Profil

Markus Sauerwein ist Hochschullehrer an der Hochschule Nordhausen mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe.
Seine Schwerpunkte sind: Soziale Arbeit und Schule, Ganztagsbildung, Jugend im transnationalen Vergleich, Kinder- und Jugendhilfe (Jugendarbeit), Profession und Professionalität, pädagogische Qualität, Ganztagsschule, Schulentwicklung, Bildungsmonitoring und Bildungsberichtserstattung, Bildungsgerechtigkeit und Teilhabe & Anerkennung.

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