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Hochschulen, Wissenschaft und Forschung – Stagnation trotz Innovation?

Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP auf dem Prüfstand (Teil IV)

Im vierten Teil unserer Kommentierung des Koalitionsvertrages beleuchten wir das Feld der Wissenschaft. Bereits in der Präambel verkündet der Koalitionsvertrag der Ampelparteien, öffentliche Investitionen in Bildung und Forschung erhöhen zu wollen (S. 5). Dass derzeit viele Berufsbiographien (auch im Sektor Wissenschaft und Hochschule) pandemiebedingt vor Umbrüchen stehen, wird im Vorwort ebenfalls anerkannt. Hier möchten die Regierungsparteien „Sicherheit auch im Übergang geben und dazu ermutigen, Neues zu wagen. Leistung muss anerkannt und Arbeit gerecht bezahlt werden“ (S. 6). Gilt das wohl auch für die Arbeit in der Wissenschaft? Ein Blick in die fünf Seiten zu „Innovation, Wissenschaft, Hochschule und Forschung“ (S. 19ff.) beantwortet diese Frage. Aber erst einmal ein knapper Rückblick ins vergangene Jahr:

Arbeitskämpfe für bessere Arbeitsbedingungen

Das Jahr 2021 war in hochschulpolitischer Sicht geprägt durch – teils erfolgreiche – Arbeitskämpfe und Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen. Diese fanden jedoch pandemiebedingt weniger auf den Straßen und Hörsälen sondern im Digitalen statt. Neben dem prominenten Twitter-Hashtag #ichbinhanna und der kontroversen Begründung des BMBFs gab es v.a. seitens der Gewerkschaft für Erziehung & Wissenschaft (GEW) vielfältige digitale Formate, um sich an den Diskussionen und Forderungen zu beteiligen. Auch das ITES initiierte mit Kolleg*innen eine digitale Tagung zu den Bedingungen der Wissensproduktion zwischen Selbstoptimierung, Qualifizierung und Prekarisierung. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG) gerät zunehmend auf den Prüfstand.

Gute „Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft“ im Koalitionsvertrag?

Der kurze Abschnitt (S. 23) zu den Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft deckt sich mit den bekannten und schlagkräftigen Forderungen der GEW. So findet sich bspw. der Slogan „Dauerstellen für Daueraufgaben“ im Koalitionsvertrag wieder. Zudem soll etwa die Planbarkeit in der Post-Doc-Phase erhöht und das Tenure-Track-Programm verstetigt werden. Das heißt: sog. Juniorprofessuren sollen vermehrt eingerichtet werden, deren Entfristung bei erfolgreich bewährter Probezeit winkt.

Leider ist weiterhin keine Erhöhung der Planbarkeit für die Prae-Doc-Phase in Aussicht, sodass der Weg in die Wissenschaft selbst ein Wagnis bleibt. Für viele Wissenschaftler*innen jenseits unbefristeter Professuren (Jens*) stellt auch der breite Stellenmarkt keine gesicherte Lebensgrundlage dar. Dieser bietet v.a. Drittmittelprojekte, oft mit einer Dauer von max. drei Jahren und lediglich in Teilzeit, an. Insbesondere, wenn Jens* Bafög zurückzuzahlen haben, Kinder oder andere Familienmitglieder mitfinanzieren müssen, oder sich schlicht eine solche prekarisierte Arbeitsstelle nicht leisten können.

Und was ist mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz?

Stattdessen sollen weiterhin, wie bereits 2018 in dem mittlerweile gelöschten BMBF-Video zum WissZeitVG angekündigt, „frühzeitige Perspektiven für alternative Karrieren geschaffen werden“ (S. 23). Damit sind Arbeitsfelder außerhalb der Hochschulen adressiert und vielleicht ja sogar außerhalb der Wissenschaft. Das WissZeitVG soll laut Koalitionsvertrag nochmals reformiert werden – auf Basis der quasi hauseigenen Evaluation. Ein Glück, dass sich auch das Netzwerk für gute Arbeit in der Wissenschaft an einer arbeitnehmer*innenfreundlichen „alternativen Evaluation“ beteiligt.

Innovationen – Höher, schneller, weiter

Der erste Satz zu dem Abschnitt „Hochschule & Forschung“ beginnt mit einem Klassiker des FDP-Jargons: „Deutschland ist Innovationsland“ (S. 19). Die Bundesregierung verspricht „Mut zur Veränderung zu haben“ und sogar „nachhaltige Innovationskraft zu entfachen“ (S. 19). Denn schließlich seien die Universitäten und Hochschulen „als Herz des Wissenschaftssystems zu stärken“ (S. 19). Die hier bereits an anderer Stelle analysierte blumige Rhetorik lässt grüßen.

Ich habe mal gezählt, wie oft das Wort Innovation-/innovativ auf den knapp fünf großzügig formatierten Seiten auftaucht: 24 mal. Innovation ist wirklich wichtig, erfuhren wir auch in dem bereits erwähnten gelöschten Video des BMBF. Dort hieß es, Innovation sei ausschließlich mit „neuen“ Wissenschaftler*innen zu erreichen, alle, die schon länger dabei sind „verstopfen“ ja das System.

Der gesamte Impetus des Textes transportiert diese Innovations-Rhetorik. Von Beschleunigung ist die Rede (S. 19), oder Effektivität (S. 20). Beides wird im Text in Bezug auf Klimafragen und Impfstoffentwicklung von „der“ Wissenschaft eingefordert. Ohne Frage ist im Kampf gegen den Klimawandel oder die Pandemie Schnelligkeit geboten – Leben stehen auf dem Spiel. Jedoch ignoriert diese Steigerungs- und Beschleunigungslogik, dass auch Naturwissenschaften genügend Zeit für Forschung benötigen. Gleichzeitig setzt es alle Forschungsrichtungen grundsätzlich unter Druck, schnell und effektiv zu sein – was auch immer das heißen mag. Gute Wissenschaft braucht Zeit, Planbarkeit und damit längere, verstetigte Fördermittel.

Verzahnung von Wirtschaft und Wissenschaft?

Um all die anvisierten Innovationen auch voranzutreiben, soll ein Innovations-Institut gegründet werden – die „deutsche Agentur für Transfer und Innovation“ (S. 20). Diese strebt eine Verknüpfung von Wirtschaft („Start ups, KMU[1]“) und Wissenschaft an. Aber nicht nur: auch die Zusammenarbeit mit „sozialen und öffentlichen Organisationen“ soll ermöglicht werden (S.20). Ausgründungen sollen gestärkt und durch „Science-Entrepreneurship-Initiativen begleitet“ werden (S. 20). Auch die Stärkung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen wird versprochen. Hoffen wir mal, dass die in Aussicht stehenden Fördermöglichkeiten auch Vereinen zu Gute kommt und nicht nur unternehmerischen Instituten. In Anbetracht der gegenwärtig geringen Zahl genuin sozialpädagogischer außeruniversitärer Forschungseinrichtungen wäre dies ansonsten ein schlechtes Omen fürs ITES.

Exzellenz und Resilienz für den Fortschritt

Neben fünf – eher auf Technik, Wirtschaft und Naturwissenschaften ausgerichteten – „Zukunftsfeldern“ finden sich die Human-, Sozial- und Erziehungswissenschaften randständig als sechstes Zukunftsfeld wieder. Darunter subsumiert die Ampel: „gesellschaftliche Resilienz, Geschlechtergerechtigkeit, Zusammenhalt, Demokratie und Frieden“ (S.20). Zum Thema „gesellschaftliche Resilienz“ lohnt sich sicher noch ein eigener Blog-Beitrag. Wo der Begriff der Resilienz, so wie er individualisiert verwendet wird, doch „all jene Verhältnisse [stabilisiert], an deren prekärem Zustand sich das Bedürfnis nach Resilienz entzündet“ (medico, o.J.).

Dafür wird an der Exzellenzstrategie festgehalten. Auch die Einführung von „Micro-Degrees“, v.a. im Rahmen der digitalen Hochschullehre, soll geprüft werden. Es scheint einmal mehr um Zertifikate, weniger um Inhalte zu gehen. Wettbewerb steht im Fokus. Nicht nur auf der Ebene der Individuen und deren Bildungsabschlüssen, sondern auch in Bezug auf die Hochschulen untereinander und gleich in Bezug auf die gesamte internationale Vergleichbarkeit und die Wirtschaftskraft Deutschlands. Exzellenz und Resilienz scheinen dabei zwei Optimierungsbausteine für den vermeintlichen Fortschritt zu sein.

Unternehmerische Hochschulen

Es bleibt abzuwarten, ob diese eingeforderte Wettbewerbs- und Steigerungslogik tatsächlich den Wandel der Universitäten zu „unternehmerischen Hochschulen“ noch weiter in den Sog der Beschleunigung reißen kann, in dem sie sich bereits befinden. Auch bleibt zu beobachten, wie diese anvisierte Verzahnung von Unternehmen und Hochschulen noch stärker statt Forschungsergebnissen und deren Erkenntnisse, den wirtschaftlichen Mehrwert dieser honoriert. Oder wie die Unternehmen gar selbst stärkeren Einfluss auf Forschungsprojekte nehmen werden.

Ein Lichtblick?

Ob die versprochenen Verbesserungen zu den Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft tatsächlich umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Sicher ist, dass der politische und aktivistische Druck endlich wahrgenommen wurde. Es darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern das Feld der Wissenschaft selbst zu reformieren ist. Und zwar nicht in die im Koalitionsvertrag angestoßene Richtung einem noch weiter beschleunigten, karriere-, innovations- und wirtschaftskraft-orientierten Feld, sondern einem, dass die gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse kritisch analysiert und Überlegungen anstößt, „wie endlich alles anders wird“ (Adamczack 2004).

Diversity – not just a management-thing

Absolut begrüßenswert ist, dass familien- und behindertenpolitische Aspekte „für alle verbindlich“ gemacht werden sollen (S. 20). Auch „Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt“ sollen in allen „Förderprogrammen und Institutionen“ verankert werden (S. 20). Dies kann als erster wichtiger Schritt für Veränderung gesehen werden. Quoten könnten helfen, sofern sie nicht so marginal und lückenhaft umgesetzt werden, wie in Bezug auf Unternehmen und die gesetzlich vorgegebenen Einstellungsquoten von Menschen, die be_hindert werden.

Es ist auch ein Wandel im Bewusstsein der Menschen für mehr Gerechtigkeit notwendig, um die „gläserne Decke“ zu durchbrechen. „Diversity“ sollte demnach nicht ausschließlich als „Diversity-Management“ verstanden werden, dass Vielfalt nur als Token und individuelles Merkmal feiert. Stattdessen müsste ein umfassender institutioneller Wandel angestrebt werden, indem die Wurzeln dessen bekämpft werden, die Diversity an den Hochschulen bisher verhinderten: institutionelle Diskriminierung, Klassismus, Rassismus, Sexismus, Ableismus usw.

Neues wagen?

Um auf die oben aufgeworfene Frage zurückzukommen: Ja, mit der Metapher „Neues wagen“ scheint das Wissenschaftsfeld selbst adressiert zu sein. Andererseits adressiert sie damit aber auch all diejenigen Wissenschaftler*innen, die sich individuell um ihre berufliche und lebensweltliche Zukunft sorgen – die in dieser Logik nur „alternative Karrierewege“ wagen müssten, wenn sie mit dem bestehenden System unzufrieden sind. Es wird auch klar, dass mit der Forderung „Leistung muss anerkannt werden“ eher nicht auf einen breiten Leistungsbegriff abgezielt wird, der jegliche fürs gesellschaftliche Zusammenleben relevanten Arbeitstätigkeiten bedingungslos anerkennt und absichert. Stattdessen befindet sich zwischen den Zeilen des Koalitionsvertrags ein Elefant im Raum. Ein ganz spezifischer, ein messbarer Leistungsbegriff wird hier favorisiert. Einer, der sich nicht nur an den Inhalten geschriebener Papern, dem Hirsch-Index, oder den eingeworbenen Drittmitteln messen lässt, sondern in seinem Mehrwert für den wirtschaftlichen „Fortschritt“.


[1] Für den Fall, dass ich nicht die einzige bin, die diese Abkürzung googlen muss: KMU steht für „kleine und mittlere Unternehmen“.

Zitiervorschlag: Simon, S. (2022). Hochschulen, Wissenschaft und Forschung – Stagnation trotz Innovation? Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP auf dem Prüfstand (Teil IV). Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_20220127_14

Autor*innen-Profil

Stephanie Simon ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit (ISEP) der TU Dortmund.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Armut und soziale Ungleichheiten, Deutungen von Bildung & Erziehung, Kindheitsforschung, qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung.

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