Der Armutsbericht des Paritätischen liefert bedenkliche Zahlen zur gegenwärtigen Situation von armutserfahrenen Menschen in Deutschland. Die Armutsquote steigt auf den Höchststand seit 2005, die aktuelle Grundsicherung deckt die Inflation und deren Folgen für armutserfahrene Menschen nicht ab, die Folgen der Klimakrise drohen zulasten von vulnerablen Personen zu gehen. Zwischen Pandemie, Inflation und fortschreitender Klimakrise wird gerade am Entwurf zum neuen Bürgergeld gearbeitet. Wie wird politisch und medial auf diese dramatische Situation reagiert?
Die Armutsquote in Deutschland auf dem Höchststand: Zahl der armutserfahrenen Menschen steigt
Der neue Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes wurde Ende Juni 2022 vorgestellt. Er betrachtet die Entwicklungen im Jahr 2021, dem zweiten Pandemiejahr, worin sich gleich mehrere Negativtrends fortführen:
- Die Armutsquote für 2021 ist auf einen Höchststand gestiegen auf 16,6 % seit ihrer Messung über den Mikrozensus (2005); das sind 13,8 Millionen von Einkommensarmut betroffene Menschen, 300.000 mehr als im Vorjahr und 600.000 mehr als vor der Pandemie.
- Der Anstieg der Armutsquote seit der Pandemie ist zwar hoch, den Aufwärtstrend selbst macht der Bericht aber schon seit dem Jahr 2006 aus. Deutlich wird daran, dass die Pandemie selbst nicht für die steigenden Armutszahlen auszumachen ist
- Seit Beginn der Pandemie im Jahr 2020 sind insbesondere in der Gruppe der Erwerbstätigen sehr viel mehr Selbstständige unter die Armutsgrenze gefallen.
- Die Risikoprofile wiederholen sich überwiegend: Haushalte mit Kindern (insbesondere Alleinerziehende mit einer Quote von 41,6 % (!)) sind überproportional betroffen, ebenso wie Menschen mit Migrationsgeschichte oder mit niedrigem formalen Bildungsstatus und Nicht Erwerbstätige. Auch liegt ein „Armutshochstand“ bei Kindern und Jugendlichen vor mit 20,8 %, d.h. ca. ein Fünftel der jungen Menschen verfügen über Armutserfahrungen.
Prekarisierung langzeitarbeitsloser Personen durch die Pandemie – und Inflation
Besonders in den Blick zu nehmen ist die Gruppe der langzeitarbeitslosen Personen, d.h. alle Personen, die mindestens seit einem Jahr Erwerbsarbeit suchen, zumeist im Hartz-IV-Bezug sind. Diese wuchs laut Armutsbericht des Paritätischen im ersten Pandemiejahr um 41 % an, was ca. 300.000 Personen ausmacht und im zweiten Pandemiejahr um 26 %. Damit liegt die absolute Zahl der registrierten Arbeitslosen bei über einer Millionen Menschen. Gleichwohl machen erwerbsarbeitslose Personen lediglich 5,5 % der Armutsbetroffenen aus, laut Armutsbericht des Paritätischen, was bedeutet, dass nicht automatisch alle Erwerbsarbeitslosenpersonen auch armutsgefährdet oder -betroffen sind. Während die Hilfspakete der Bundesregierung in Bezug auf den Arbeitsmarkt die Folgen der Pandemie zumindest für 2020 abfedern konnten (z.B. durch das Kurzarbeitsgeld) gibt es eine überschaubare Zahl an Maßnahmen zur Unterstützung von Grundsicherungsbeziehenden. Sie beschränken sich vor allem auf eine Einmalzahlung von 150 Euro aus dem Jahr 2021.
Wurde der aktuelle Grundsicherungssatz schon während der Pandemie als zu niedrig kritisiert, ist er in der gegenwärtigen Preissteigerung bedingt durch die Inflation absolut unzureichend. Der Paritätische fordert eine Anpassung auf 678 Euro, um dem gegenwärtigen Inflationsschub zu entsprechen. Eine solche Anpassung des Bürgergeldes war im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Die FDP spricht sich daher gegen eine Erhöhung der Grundsicherung für Langzeitarbeitslose aus. Dass aber ein menschenwürdiges Leben mit dem gegenwärtigen Regelsatz von 449 € nicht möglich ist, zeigen der Anstieg der Tafelnutzer*innen, und auch Stimmen armutserfahrener Personen, die im Paritätischen Armutsbericht aufgenommen sind, wie z.B. von E:
„Aktuell gebe ich viel mehr Geld für meine Ernährung aus, als im Regelsatz dafür vorgesehen ist und kann trotzdem kaum Gemüse und Obst essen“ (Frau E, Paritätischer)
Besonders betroffen in Folge von sich verschärfenden Hitze- und Kälteperioden
Zudem lässt die Steigung der Heizkosten im Herbst viele Sozialleistungsbeziehende sorgenvoll in die Zukunft blicken. Bereits für 2019 berichtete das Statistische Bundesamt, dass 2 Millionen Menschen in Deutschland aus finanziellen Gründen ihre Wohnung nicht angemessen heizen konnten. Bei den gegenwärtigen Steigerungen der Energiekosten bleibt zu befürchten, dass sich diese Zahl massiv erhöhen wird. Zwar werden die Heizkosten vom Jobcenter übernommen, jedoch erst nach Prüfung des Einzelfalls auf Angemessenheit, was wiederum eine bürokratische Hürde darstellt.
Dies zeigt, dass nicht nur global, sondern auch innerhalb Deutschlands, die Folgen der Klimakrise ungleich verteilt sind. Besonders benachteiligt bei Hitze- und Kältewellen sind vulnerable Gruppen, so beispielsweise von der gegenwärtigen Hitze wohnungs- und obdachlose Personen , aber auch Menschen, die in schlecht isolierten Wohnungen leben und/oder chronisch krank sind, also jene Personen, die möglicherweise eine von Armut gekennzeichnete Lebenslage haben. Politische Überlegungen zum Umgang mit der Klimakrise und den Folgen dieser sollten daher auch armutserfahrene Personen mitdenken.
#IchBinArmutsbetroffen – Stimmen Armutserfahrener Menschen im medialen Diskurs
Die hier diskutierten Zahlen und Prozentwerte sind wichtig, um eine empirische Informationsgrundlage für Politik und Öffentlichkeit zu schaffen. Sie bilden jedoch lediglich die statistische Seite der empirischen Armutsmessung ab und halbieren somit in gewisser Weise das, was Armut eigentlich ausmacht, nämlich einen Alltag voller Einschränkungen, Verzicht und Ausschluss. Der Paritätische Armutsbericht versucht, über eingestreute Zitate die Erfahrungen von Armutsbetroffenen zu repräsentieren. Seit Mai 2022 machen zudem Menschen unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen auf Twitter ihre Lebenslage öffentlich, berichten über Wut, Trauer, Empörung und Scham. Bekannt geworden ist beispielsweise der Post von Luffy Lumen:
„#IchBinArmutsbetroffen hieß für mich heute im Supermarkt zu stehen, die Preise zu sehen und fast zu weinen. Eigentlich wollte ich heute endlich meinen Kindern den Wunsch nach einer Wassermelone erfüllen, die sie seit Wochen haben wollen. Ich musste sie wieder enttäuschen.“
Bei diesen Verzichtserfahrungen wirken Tipps, die einige Hashtagnutzer*innen erhalten, wie sich beim Einkaufen und Heizen noch besser sparen ließe, zynisch. Und etwas zugespitzt ließe sich formulieren, dass auch die Phantasie fehlt, dass gerade eine Gruppe wie armutserfahrene Menschen ökonomische Folgen der gesellschaftlichen Krisen dieser Tage tragen sollte. Vor diesem Hintergrund sollten die Erfahrungen von armutserfahrenen Menschen in politische Entscheidungen, zum Beispiel zur Ausgestaltung des neuen Bürgergeldes, einfließen.
Aber das braucht Voraussetzungen. Dass diese schon ökonomisch nur schwerlich gegeben sind, darauf verweist beispielsweise die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, dass allein der Regelsatz zu niedrig sei, um eine politische (Selbst-)Organisation angemessen wahrnehmen zu können (siehe auch den Blog-Beitrag zum Bürgergeld). Offen bleibt die Frage, inwieweit der Hashtag #IchBinArmutsbetroffen weitere – politische – Wirkkraft entfalten kann.
Ausblick
Gerade in Zeiten, in denen die Menschen mit einer steigenden Inflation, die auf Folgen der Pandemie trifft, und mit einer zunehmend fortschreitenden Klimakrise konfrontiert sind, sollten Maßnahmen zur Unterstützung armutserfahrener Menschen Priorität erhalten, um nicht sozialpolitische Versäumnisse aus der Vergangenheit immer weiter fortzuführen. Es geht im Sinne der Solidarität auch darum, über den Wunsch Betroffenen eine Stimme zu geben hinausgehend, ihre Beteiligung und Interessenvertretung zu stärken und diesen Gehör zu verschaffen. Eine Soziale Arbeit, die sich diesen Themen der sozialen Ungleichheit widmet, muss daher auch Fragen der Klima(un-)gerechtigkeit mitdenken, um die ungleich verteilten Folgen der Klimakrise in den Blick zu bekommen. Die aufgelegten Programme der Inflationsbekämpfung lassen im Hinblick auf Armut besonders skeptisch werden, denn sie verfolgen eher das Prinzip „Gießkanne“, als die besonderen Bedarfe und durch die Inflation sich verschärfenden Nöte dieser vulnerablen Gruppen ernst zu nehmen.