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Kinderarmut in Österreich

Wie armutsbetroffene Kinder das Aufwachsen in Armut erleben

Ähnlich wie in Deutschland ist in Österreich mehr als jedes fünfte Kind von Armut und Ausgrenzung bedroht, konkret sind das österreichweit 368.000 Kinder und Jugendliche. Kinder haben ein höheres Armutsgefährdungsrisiko als Erwachsene (Statistik Austria 2022). Armut ist mehr als nur „jeden Euro dreimal umdrehen“ zu müssen. Armutsbetroffene Familien wohnen eher in überbelegten, lauten und feuchten Wohnungen (ebd.), sie sind besonders stark durch die Schulkosten belastet und können häufiger als andere bestimmte Bildungswege aus finanziellen Gründen nicht einschlagen. Der Zusammenhang zwischen Einkommenssituationen von Familien und den gesundheitlichen Ungleichheiten ist international betrachtet gut erforscht – etwa, wenn es um Entwicklungsstand, Unfallwahrscheinlichkeiten, Morbidität und Wohlbefinden geht (vgl. u.a. Lampert et al. 2013; Frank et al. 2016). Kinder aus Familien im unteren Einkommensfünftel essen weniger häufig Frühstück (HBSC 2020), was sich nachteilig auf das Lernen auswirkt.

Blick auf Erleben und Strategien der Kinder

Im Rahmen eines Forschungsprojekts, das mit Mitteln der Volkshilfe Österreich[1] – einer der größten Sozialorganisationen in Österreich – finanziert wurde, wurde eine Kindergrundsicherung (Fuchs/Hollan 2018) zwei Jahre lang je einer Familie in jedem der neun Bundesländer in der Höhe von maximal 625 Euro pro Kind pro Monat ausbezahlt. Ziel der Forschung war es, die Veränderungen in der kindlichen Lebenswelt durch die abgesicherten ökonomischen Verhältnisse zu erheben. Konkret interessierte die Forschungsgruppe das Erleben, die Deutungen und Praktiken armutsbetroffener Familien und hier vor allem der Kinder. Vorab jedoch wurde eine umfassende Ersterhebung durchgeführt um die Auswirkungen und das Erleben eines Aufwachsens in Armut zu erfassen. Einige Ergebnisse aus dem qualitativen Forschungsprozess werden in diesem Beitrag exemplarisch dargestellt.

Richtiger Schinken“ und „Toastbrot-Zeiten

Die Analyse der Lebensbedingungen vor Projektbeginn zeigt, dass das Leben armutsbetroffener Kinder und Jugendlicher im Projekt von dauerhafter oder episodisch wiederkehrender Nicht-Befriedigung von Bedürfnissen wie Lebensmittel oder Kleidung geprägt ist. So handeln viele Interviewpassagen vom existenziellen Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen, sich ausreichend ernähren zu können. So äußert ein Kind am Projektbeginn etwa folgenden Wunsch nach Lebensmitteln: „Schinken, also richtiger Schinken, nicht dieser Toastschinken (…), richtige Butter, Eier!“ (IV 15_1, Z. 73). Aber auch Antworten auf Fragestellungen zur Freizeitgestaltung oder Alltagswünschen folgen diesem Muster einer Orientierung auf die Erhaltung der bloßen Existenz: „[…] dacht mir jetzt, okay, wenns jetzt nicht in Erfüllung geht, meine Mutter braucht das Geld, damit wir Essen ham und so“ (IV24_1, Z. 34). Hinsichtlich der Ernährungssituation ist den Kindern auch bewusst, dass es insbesondere Ende des Monats zu einer prekären Versorgungslage kommen kann. Einen besonders prägnanten Begriff fand ein Gesprächsteilnehmer* in der Reflexion ein Jahr nach Projektbeginn dafür: „es hat sich sehr vieles geändert zum Besseren. […] Wir ham jetzt keine Toastbrotzeiten mehr, […] scho lange nicht mehr ghabt. […] Dann also, wie gsagt die Toastbrotzeiten sind so gut wie weg, nur blasse Erinnerung jetzt mal“ (IV15_2, Z. 89-91). Kinder berichten zudem, dass sie nicht immer eine Schuljause [Pausenbrot] mithaben. Das hat neben der Verfügbarkeit der Lebensmittel auch die Arbeitszeiten (Frühschicht, Nachtdienst, etc.) der Eltern als Hintergrund. Für die Kinder ist es dann aus finanziellen Gründen nicht möglich, sich etwas am Schulbuffet oder im Supermarkt zu kaufen: „[W]enn ich also Beispiel keine Jause dabeihabe, ich schaue ich immer allen anderen Schülern zu, wie sie essen und ich sitze einfach auf meinem Sitzplatz und hol einfach meinen Block und mal etwas […]“ (IV17_1, Z. 1190-1192).

Armut wird von vielen Kindern im Forschungsprojekt als permanente Bedrohung wahrgenommen, was sich unmittelbar durch emotionalen Stress äußert. Die nicht gesicherte Existenz wird nicht nur von den Eltern(teilen), die für das Familienwohl verantwortlich sind, sondern auch von den Kindern im Familienverband als direkte Belastung erlebt. „Ich würde mich halt gern fühlen, dass ich nicht die Sorgen hab, dass wir kein Geld haben und nix kaufen können oder so was“ (IV 15_1, Z. 9). Deutlich geäußerte Existenzängste stehen einerseits in direktem Zusammenhang mit der starken emotionalen Belastung: „[…] davor hab ich Angst und darum bin ich unzufrieden (…) Ja, weil wir halt nicht so viel Geld haben. Dass wir die Wohnung irgendwann nicht mehr bezahlen können“ (IV 25_1, Z. 12). Andererseits wird die Belastung auch im Kontext von regelmäßig auftretenden Schmerzen wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, oder wie im folgenden Zitat mit Bauchschmerzen in Zusammenhang gebracht: „Manchmal hab ich Bauchschmerzen […] immer wenn ich traurig bin oder halt genervt, dann wenn ich bisschen böse bin, bekomm ich die Bauchschmerzen“ (ITV 25_1, Z. 165-172).

Viele Kinder im Projekt stellen kaum Ansprüche an ihre Eltern, die mit Kosten verbunden sind, fühlen sich häufig mitverantwortlich für die Existenzerhaltung der Familie. Viele Kinder zeigen vor allem ein existenzorientiertes Handeln: “Wenn wir mehr Geld hätten, würden wir als erstes Gwand kaufen. Und fürn Bett, ja“ (IV15_1, Z. 18). Die Finanzierung des existenziell Notwendigen wird als wichtig und wünschenswert gesehen, alles darüber hinaus als nicht notwendiger Luxus angesehen: “[…] und dann würden wir das Geld anfangen zu sparen für Urlaub und allen Bledsinn, sozusagen“ (IV15_1, Z. 78). Auffallend war hier auch, dass mehrere Kinder betonen, dass die Eltern damit Anschaffungen für die Kinder tätigen würden und nicht an sich denken würden.

Anders als gesellschaftliche Vorurteile über Armutsbetroffene (vgl. zum sozialpolitischen Entstehungskontext klassistischer Ideologien u.a. Butterwegge 2018, S. 95-103), erleben die Kinder ihre Eltern als aktiv. Der erlebte Mangel wird von den Kindern aber, wie sich im Projekt zeigt, häufig als gegeben akzeptiert. Ein Elternteil erzählt dazu: „Und das ärgste ist wirklich […], dass die Kinder des afoch einsehen. Und, ja ok. Dann halt ned. Wenns wenigstens amal rebellieren täten und sie am Boden schmeissen taten oder so, dann tat man sagen, ja okay. Jetzt erst recht ned. [lacht, Anm.] Aber so, de sehens einfach ein und des tut oft no vü, vü mehr weh (IV 12_1, Z. 38). Die Kinder im Projekt erleben auch die Abwertung ihrer Eltern in der Gesellschaft – etwa als Arbeitslose oder Empfänger*innen von bestimmten Transferleistungen. Sie waren auch mit Mobbing auf Grund ihrer finanziellen Situation zu Projektbeginn konfrontiert: „(…) zum Beispiel als i heute gsagt hab in der Schui, hams mi gefragt: hast das Geld mit? Und i hab dann gsagt, ah na mei Mama bringts ma noch, weil wir ham ka Göd daham ghobt, dann homs olle zum Lochen angfongan (IV 13_1, Z. 20).

Die Kenntnis der finanziellen Ressourcen führt bei Kindern im Forschungsprojekt auch dazu, dass sie finanzielle Abwägungen anstellen: “[…] wir sind ins öfter Schwimmen gegangen, aber jetzt nicht in so ein super Schwimmbad, sondern in ein Schwimmbad, wo wir Kinder gratis sind und für Eltern drei Euro“ (IV 25_1, Z. 8-9). Eine Vielzahl solcher Situationen zeigen auch eine hohe Kostenkenntnis der Kinder, die Preise für Spielsachen oder die Eintritte im örtlichen Schwimmbad schon in jungem Alter kannten.

Was sich verändert

Die Forschung sollte auch zeigen, wie sich eine Kindergrundsicherung auf die Kinder und Jugendlichen und deren Eltern auswirkt. Allem voran wurden Mängel im Bereich Lebensmittel und der Kleidung behoben. Hier konnten einige gewichtige und kindspezifische Merkmale materieller Deprivation, wie etwa bei der Kleidung und andere Aspekte absoluter Armut (z.B. Mangel an Lebensmittel), aufgelöst werden. Die finanzielle Entspannung führte in vielen Familien zu einer merkbaren Entlastung von Eltern und Kindern. Einige Familien berichteten von gemeinsamen Ausflügen und Aktivitäten, auch solchen, die mit Kosten verbunden sind. Nicht nur die soziale Teilhabe der Kinder verbesserte sich, sondern auch einige Eltern konnten langjährige Isolation schrittweise aufbrechen. Kinder konnten neue Sportarten ausprobieren, Freund*innen im Kino treffen und ihren Interessen nachgehen. Auch der (subjektive) Gesundheitszustand einiger Kinder im Forschungsprojekt Kindergrundsicherung verbesserte sich nachhaltig. Die durchaus positiven Ergebnisse verweisen darauf, dass eine Kindergrundsicherung ein effektiver und nachhaltiger Weg sein könnte, Kinderarmut in Österreich in die Geschichtsbücher zu verbannen. Diese Überlegungen zeigen, dass die Einführung einer Kindergrundsicherung in Deutschland, so wie sie im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung beschlossen wurde ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung darstellt. Es lässt hoffen, dass sich die Lebenswirklichkeiten von armutserfahrenen Kindern und Erwachsenen zukünftig verbessern.

Literatur

Fuchs, M., & Hollan, K. (2018). Simulation der Einführung einer Kindergrundsicherung in Österreich. Wien: European Centre for Social Welfare Policy and Research. Im Auftrag der Volkshilfe Österreich.

Frank, L., Kuntz, B., Lampert, T., Manz, K. & Rommel, A. (2016). „Soziale Determinanten der Schwimmfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse aus KiGGS Welle 1.“ Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 67, 137-143.

Health Behaviour in School-aged Children (HBSC) (2020). Spotlight on adolescent health and well-being. Findings from the 2017/2018 HBSC-Survey in Europe and Canada. International Report Vol. 2. Kopenhagen: HBSC.

Lampert, T., Kroll, L. E., Müters, S., Stolzenberg, H. & von der Lippe, E. (2013). Sozioökonomischer Status und Gesundheit. Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt, Gesundheitsforschung, Gesundheitsschutz, 56(5), 814-821. DOI: 10.1007/s00103-013-1695-4.

Statistik Austria (2020). EU SILC. Community Statistics on Income and Living Conditions 2019. Wien: Statistik Austria.


[1] Teil des Forschungsteams: Katayun Adib, Erich Fenninger, Dagmar Fenninger-Bucher, Hanna Lichtenberger, Judith Ranftler und Livia Schindler. Finanziert wurde es durch Spendengelder.

Autor*innen-Profil
Hanna Lichtenberger

Hanna Lichtenberger ist Sozialwissenschafterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Team „Kinderarmut abschaffen“ der Volkshilfe Österreich. Sie forscht zu den Kinderarmut, Gesundheit und Sozialpolitik. Sie lehrt an der Universität Wien, der Fachhochschule Burgenland und der FH Campus Wien.

Autor*innen-Profil
Judith Ranftler

Judith Ranftler ist Sozialarbeiterin und leitet den Fachbereich Kinderarmut, Asyl, Integration und Migration in der Volkshilfe Österreich. Sie lehrt an der FH Campus Wien im Studiengang Soziale Arbeit.

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