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Kindergrundsicherung – besser spät als nie?!

Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf dem Prüfstand (Teil III)


Eine Kindergrundsicherung soll kommen

Die neue Bundesregierung plant eine Kindergrundsicherung einzuführen. Die Idee ist nicht neu: Bereits Ende der 2000er Jahre wurde das Konzept als Reaktion auf steigende Kinderarmutszahlen intensiv diskutiert. Leider fand es bisher keinen Eingang in die sozialpolitischen Regelungen. Das soll sich laut Koalitionsvertrag bald ändern.

Kinderarmut in Deutschland

Kinderarmut ist in Deutschland Realität. Rund 21 % der Kinder und Jugendlichen wachsen in Einkommensarmut auf. Damit ist die Gruppe häufiger von Armut betroffen als der Bundesdurchschnitt. Dieser liegt bei 14,5%. Das zeigen erneut die repräsentativen Zahlen aus dem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2021). Wird in die Statistik tiefer geblickt, verschärft sich die Ungleichheit in Bezug auf bestimmte Familienformen: Am häufigsten von Armut betroffen oder bedroht sind Alleinerziehende. Aber auch Familien mit sog. Migrationshintergrund sowie kinderreiche Familien sind stärker von Armut betroffen. Als ein kinderfreundliches Land lässt sich die Bundesrepublik auf dieser Basis keineswegs beschreiben (vgl. Schneider et al. 2015).

Kinder – und auch Jugendliche – sind dabei abhängig von den finanziellen Ressourcen ihrer Eltern. Geraten diese aufgrund von Erwerbslosigkeit oder als Geringverdiener*innen in finanzielle Probleme, stehen ihnen Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu. Dies sind vor allem Leistungen nach dem SGB II, auch Hartz IV genannt, dem SGB XII und dem Asylbewerber(*innen)gesetz.

Sozialleistungen in Deutschland – nur für Erwachsene?

Das Problem: Je nach Einkommenssituation ihrer Eltern werden Kinder ungleich finanziert. Damit forcieren die sozialpolitischen Leistungen selbst eine ungerechte Verteilung, die sie eigentlich zu verhindern suchen. Dies ist beispielsweise im Einkommenssteuerrecht in Kombination mit den Kinderfreibeträgen angelegt im Vergleich zur Mindestsicherung. Die gesetzlichen Regelungen sorgen dafür, dass Kinder aus Familien mit höheren Einkommen so weit profitieren, dass sich der Vorteil bis zum 18. Geburtstag auf bis zu 20.000 Euro aufsummieren kann (vgl. Bündnis Kinderarmut 2021, S. 3).

Dazu kommt ein Wirrwarr aus familienpolitischen Leistungen, welche nicht nur aufgrund ihrer Intransparenz und ihrem bürokratischem Aufwand kritisiert werden. Gerade in den Mindestsicherungen kann es dadurch zu einer sogenannten verdeckten Armut kommen. Damit sind bspw. Familien gemeint, die zwar ein Recht auf diese Leistungen haben, sie aber nicht in Anspruch nehmen. Freilich ist nicht bekannt, um wie viele Familien es sich handelt. Beim Kinderzuschlag wird vermutet, dass es bis zu 60 % der Anspruchsberechtigten sein könnten. Die Kritik an der familienpolitischen „Angebotslandschaft“ richtet sich andererseits darauf, dass ein wirklicher Fokus auf Kinder fehlt, obwohl das Bundesverfassungsgericht mit einer Reihe von Urteilen dem bereits entgegenwirken konnte (BVerfGE 1999 zur Präzisierung des kindlichen Existenzminimums; BVerfG 2010, Rn. 191 f.). Ein einheitliches, kindliches Existenzminimum über die verschiedenen Rechtsbereiche, die Kinder betreffen, konnte sich bisher jedoch nicht durchsetzen. Weder im SGB II, noch im Einkommenssteuerrecht, dem Zivilrecht (Unterhaltsrecht) oder dem Bundeskindergeldgesetz.

Kindergrundsicherung – die Bedarfe von Kindern ernst nehmen

Das „Bündnis Kindergrundsicherung“ bestehend aus Spitzenverbänden des Sozialwesens und prominenten Vertreter*innen aus der Wissenschaft hat das Konzept vorangetrieben: Unter breiter Öffentlichkeitsarbeit, umfassenden Forschungsaktivitäten und dialogischen Austauschformaten konnte ein vielbeachteter Entwurf erstellt werden. Dieser beinhaltet folgende Eckpunkte:

In der Aushandlung normativer Mindeststandards für ein gelingendes Aufwachsen von Kindern sind Aspekte der sozialen Teilhabe zu berücksichtigen. Zur Ableitung eines Existenzminimums ist daher eine Referenzgruppe zu betrachten, die den wirklichen Bedarf von Kindern decken kann. Das Bündnis fordert für diesen Prozess zur Bedarfsfeststellung einen gesellschaftlichen Dialog, angestoßen durch ein Expert*innengremium. Innovativ ist in diesem Falle, dass die Betroffenen selbst, um die es geht, beteiligt werden sollen: die Kinder und Jugendlichen.

Bis dieser längere Prozess beendet ist, ist es möglich, auf die Höhe des verfassungsrechtlich notwendigen Existenzminimums zurückzugreifen – denn das gibt es mittlerweile auch: 695 Euro pro Kind und Monat. Die Summe setzt sich aus dem sächlichen Existenzminimum (451 Euro) und dem Freibetrag für Betreuung, Erziehung und Ausbildung (244 Euro) zusammen. Damit das für alle Kinder gleichermaßen gelten kann, gibt es den Vorschlag einer einkommensabhängige Kindergrundsicherung. Familien ohne oder mit geringem Einkommen erhalten folglich den vollen Betrag, der bei steigendem Einkommen sinkt.

Die Kindergrundsicherung im Koalitionsvertrag: Die Bedarfe von Kindern ernst nehmen – aber ohne Kinder

Sichtbar knüpft der Koalitionsvertrag der Bundesregierung an das Konzept des „Bündnis Kindergrundsicherung“ an. Verwiesen wird beispielsweise auf eine Leistungsbündelung und eine einkommensabhängige Komponente. Zusätzlich sollen Wechselwirkungen mit anderen Leistungen geprüft werden sowie die direkte Auszahlung an Kinder in Ausbildung ab dem 18. Lebensjahr. Das Vorhaben klingt an, ein zugänglicheres System zu schaffen. Dazu heißt es konkret:

„In einem Neustart der Familienförderung wollen wir bisherige finanzielle Unterstützungen (…) in einer einfachen, automatisiert berechnet und ausgezahlten Förderleistung bündeln. Diese Leistung soll ohne bürokratische Hürden direkt bei den Kindern ankommen und ihr neu zu definierendes soziokulturelles Existenzminimum sichern.“

Koalitionsvertrag 2021, S. 100

Die Zusammenführung der Maßnahmen unter Abbau von formalen Hürden wird hier in einer – bereits bekanntenblumigen Rhetorik in einem Neustart verortet. Dieser strebt auch und endlich eine Neudefinition des Existenzminimums für Kinder an. Dass es sich um ein anspruchsvolles Vorhaben handelt, wird aber nicht verdeutlicht. Genau hier bleibt außerdem vage, ob und wie die dringend notwendige Beteiligung der Kinder und Jugendlichen selbst erfolgen soll. Dies ist umso erstaunlicher, setzen sich die Regierungsparteien doch ausdrücklich für die Etablierung der Kinderrechte im Grundgesetz ein (S. 98). An anderer Stelle wird zumindest eine Arbeitsgruppe versprochen unter der Leitung des BMFSFJ. Dennoch fehlt es an der Sicherung eines höheren, finanziellen Niveaus, als es gerade der Fall ist. Dies hätte beispielsweise über den Bezug auf den neuen Existenzminimumbericht der Bundesregierung verankert werden können.

Ein guter Anfang – aber noch kein „Paradigmenwechsel“

Die Einführung einer Kindergrundsicherung scheint überfällig und damit begrüßenswert. Der Koalitionsvertrag ist mit einigen Abstrichen an den Eckpunkten des Entwurfs des Bündnisses Kindergrundsicherung orientiert. Die neue Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Anne Spiegel, betont die Relevanz des Projekts bereits bei ihrem Amtsantritt im Dezember 2021: Dass künftig „ein Antrag zur Geburt eines Kindes genüge“, sei für sie „ein Paradigmenwechsel“ auch im Kampf gegen Kinderarmut.

Dies bleibt abzuwarten. Denn zum jetzigen Zeitpunkt ist unklar, wie die Kindergrundsicherung konkret gestaltet werden kann. Zudem ist unklar, ob sie möglich macht, die skizzierten Missstände zu beseitigen. Dabei geht es darum, die notwendigen und schwierigen Abstimmungen zwischen einer Vielzahl von Gesetzesgrundlagen (z.B. SGB II, Zivilrecht, Steuerrecht, Kinderzuschlag) anzustoßen und innerhalb einer Legislaturperiode zum Abschluss zu bringen. Eine Refinanzierung ist außerdem zusammen mit der FDP zu vereinbaren. Und die steht staatlichen Ausgaben v.a. für soziale Belange – auch wenn sie verfassungsrechtlich verbürgt sein mögen – generell skeptisch gegenüber.

Für einen Paradigmenwechsel ist darüber hinaus die gesamte Infrastruktur mit sämtlichen Leistungen und Angeboten der Erziehung, Bildung und Betreuung in gerechter Weise allen Kindern und Jugendlichen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Dies ist noch lange nicht Realität.

Literatur

Bündnis Kindergrundsicherung (2021). Kinder brauchen mehr! Unser Vorschlag für eine Kindergrundsicherung. Berlin. Online verfügbar unter: http://www.kinderarmut-hat-folgen.de/download/Buendnis_KGS_Broschuere_Konzept_final_2021.pdf [13.01.2022].

Koalitionsvertrag zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP (2021). Mehr Fortschritt wagen. Online verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1 [13.01.2022].

Schneider Norbert F., Diabaté, Kerstin, & Ruckdeschel, Sabine (Hrsg.) (2015). Familienleitbilder in Deutschland. Opladen: Barbara Budrich.


Zitiervorschlag: Prigge, J. (2022). Kindergrundsicherung – besser spät als nie?! Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf dem Prüfstand (Teil III). Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_20220117_13


Autor*innen-Profil
Jessica Prigge

Jessica Prigge, M.A., ist Mitglied im ITES und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Armut und soziale Ungleichheiten in der Sozial- und Kindheitspädagogik, Professionalisierung und Evaluation, Didaktik der Sozialpädagogik und rekonstruktiv-qualitative Sozialforschung.

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