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Koalitionsvertrag gesichtet zum Thema Kinderarmut: Was war nochmal Kindergrundsicherung?

Im Jahr 2021 hat der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn – endlich, ließe sich sagen – wurde unter Fragen von Kinderarmut eine seit längerem durch ein breites Bündnis von Wohlfahrtsverbänden, Wissenschaftler*innen und Organisationen entwickelter Vorschlag politisch aufgegriffen: die Kindergrundsicherung. Die damalige Kontur, die im Koalitionsvertrag zwischen FDP, Bündnis 90/Die Grünen und SPD festgeschrieben wurde, hatte aus unserer Sicht aber (zu) viele Federn an der Idee der generationengerechten Armutsbekämpfung gelassen, wie im ITES-Blog damals dargelegt. Zur Umsetzung ist es dann nicht nur durch das frühzeitige Ende der Koalition nicht gekommen. 

Alter Wein in noch älteren Schläuchen – Was sich SPD und CDU/CSU nun vornehmen

Der neue Koalitionsvertrag, der nun zwischen CDU/CSU und SPD ausgehandelt wurde, hat sich von der Kindergrundsicherung ganz verabschiedet – und in diesem Zuge auch gleich von den Kinderrechten. Dass beides keine prominente Rolle mehr spielt, heißt nicht, dass sie die damit angesprochenen Problematiken – wachsende Ungleichheiten und Kinderarmut – nicht im Blick hätten. Während die vorherige Regierung nicht im Stande war, ihre innovativen Vorhaben zu realisieren, werden nun Ideen aufgegriffen, die mehr an die Vergangenheit denken lassen als an die Zukunft. 

Kinderarmut bekämpfen: Misstrauen gegenüber Eltern stärken

Zur Bekämpfung von Kinderarmut lassen sich auf sozialpolitischer Ebene Vorschläge finden, die unter der Überschrift des „bürgerfreundlichen Sozialstaates“ formuliert werden:

„Wir wollen Kinderarmut wirksam bekämpfen und Alleinerziehende entlasten. Leistungen sollen dort ankommen, wo sie gebraucht werden. Wir erhöhen den Teilhabebetrag des Bildungs- und Teilhabepakets (BuT) von 15 auf 20 Euro und prüfen im Rahmen einer Machbarkeitsstudie die Einführung einer Kinderkarte für alle kindergeldberechtigten Kinder.“ (Koalitionsvertrag 2025, S. 15)

Der Anspruch, Kinderarmut bekämpfen zu wollen, wird glücklicherweise weiterhin formuliert. Die Kindergrundsicherung spielt dabei aber keine Rolle mehr. Stattdessen wird das Vorhaben angekündigt, das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) von 15 auf 20 Euro zu erhöhen. Dass der Betrag zu niedrig ist, um wirksam Teilhabeverhinderungen zu bekämpfen, sei erwähnt. Diese Erhöhung ist lediglich für eine Milderung der Folgen von Kinderarmut denkbar, wie der Paritätische begründet. Deutlich dürfte auch sein, dass diese Leistung keinen Einfluss auf die Ermittlung der Armutsquote haben wird, die vor allem über das mittlere Einkommen der Haushalte bestimmt wird oder -wie im Armuts- und Reichtumsbericht von 2021 – über die soziale Lage, die neben dem Einkommen auch Vermögen, Wohnen und Erwerbstätigkeit berücksichtigt.  

Im Diskurs um das Bildungs- und Teilhabepaket wurde zudem schon früh auf die Problematik verwiesen, dass eine Individualleistung vorliegt, deren bürokratischer Aufwand für alle Beteiligten nicht den Nutzen widerspiegelt (vgl. für einen kleinen Überblick etwa Lochner et al. 2018): Im Kern müssen Eltern für jede Ausgabe, die durch die Teilhabe ihrer Kinder im Kultur- und Bildungsbereich entsteht, den öffentlichen Behörden den entsprechenden Beleg und entsprechende Nachweise zum Anspruchsrecht ihrer Kinder vorlegen. Zuweilen werden sie von Fachkräften oder Kindertageseinrichtungen unterstützt, etwa wenn es um die Finanzierung des Mittagessens vor Ort geht. Finanzierungen für Institutionen wie Sportvereine und Kindertagesbetreuungen sind nicht vorgesehen, wodurch das BuT auch als ‚Misstrauensgesetz‘ gegenüber Eltern in Armutslagen bezeichnet wird (vgl. Lochner et al. 2018) – im Anschluss an die Ausführungen im Koalitionsvertrag: „Leistungen sollen dort ankommen, wo sie gebraucht werden“. Der „bürgerfreundliche Staat“ tritt damit als Kontrolleur ‚schlechter‘ Eltern in Erscheinung, die – so wird suggeriert, ohne empirische Befunde zur Kenntnis zu nehmen (vgl. z.B. Bertelsmannstiftung 2018) – kein Garant seien, dass Leistungen die Kinder auch erreichten. In direkter Linie dazu kann dann auch die Idee einer „Kinderkarte für alle kindergeldberechtigten Kinder“ verortet werden, die die Misstrauens-Unterstellung weiter fortführt. Dieser SPD-Vorschlag klingt zunächst charmant: Allen Kindern und jungen Menschen wird eine Karte oder App zur Verfügung gestellt, über die sie kostenfrei ÖPNV nutzen und an Kultur- und Freizeitangeboten teilnehmen können (z.B. Sportvereine oder Museen). Dieser Ansatz könnte dazu beitragen, Kinder als Bürger*innen des Sozialstaats konsequent einzubeziehen, impliziert folglich auch etliche wertbasierte Bezüge zu den Kinderrechten. Völlig ungeklärt bleibt jedoch in solch pauschalisierenden Angeboten für alle Kinder, wie die konkrete Zielgruppe – Kinder und Familien in Armutslagen – so profitieren kann, dass gerechtere Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft entstehen und soziale Ungleichheiten, z.B. mit Blick auf Wohnen oder gesundheitliche Folgen, abgebaut werden. Problemdefinition und Lösungsvorschläge passen einfach nicht zusammen. 

Kinderarmut bekämpfen: Testen und Fördern

Die Bekämpfung von Kinderarmut wird schließlich auch im Kontext von früher Bildung verhandelt. Wie können laut Koalitionsvertrag Kinder und Familien in Armutslagen unterstützt werden? 

„Kinder und Jugendliche sollen ihr Potenzial unabhängig von ihrer Herkunft ausschöpfen können (…) [in einem] moderne[n] Bildungssystem, das individuelle Bedarfe der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt und die Demokratie stärkt.“ (Koalitionsvertrag 2025, S. 71)

Diese Formulierung steht ganz im Geiste der 2000er Jahre, in denen die an Humankapital interessierte Sozial- und Bildungspolitik sukzessive eingeführt wurde. Kritik an dieser positiven Sollens-Vorstellung der optimal „ausgeschöpften“ Subjekte ist seither auch auf empirischer Basis vielerorts erarbeitet worden. Zwei Aspekte seien hier herausgehoben. Erstens: Den Kindern wird Gerechtigkeit in der Zukunft versprochen unter der Bedingung, dass sie ihr Potential ausgeschöpft haben. Für die jetzige Situation wird jedoch keine Lösung angeboten. Zweitens: Das Versprechen geht an empirischen Befunden aus dem Bildungssystem vorbei, die darauf aufmerksam machen, dass die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Schulleistungen seit über 20 Jahren nicht annähernd realisiert werden konnte oder gar erfolgreich war. Diese Ungerechtigkeit wird nicht angegangen, abgefedert und noch nicht einmal problematisiert. Wie möchte die neue Bundesregierung „die Potentiale“ also fördern?

„Für gutes Aufwachsen und Chancengerechtigkeit für alle Kinder in Deutschland werden wir die verpflichtende Teilnahme aller Vierjährigen an einer flächendeckenden, mit den Ländern vereinbarten Diagnostik des Sprach- und Entwicklungsstands einführen.“ (Koalitionsvertrag 2025, S. 71) 

Sie möchte ein Monitoring für Vierjährige einführen. Der Ansatz ist von den PISA- und IGLU-Studien übernommen, die die herkunftsbedingte Ungleichheit im Bildungswesen offenlegten und -legen und vor allem in die Öffentlichkeit transportieren. Seit über 20 Jahren werden auf dieser Basis individuelle Förderungen eingefordert um den durch gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse hervorgebrachten Problemen zu begegnen. Was hat die neue Bundesregierung vor?

„Bei ermitteltem Förderbedarf erwarten wir von den Ländern geeignete, verpflichtende Fördermaßnahmen und -konzepte.“ (Koalitionsvertrag 2025, S. 71)

Das fatale an dieser Idee ist nicht einmal, dass die vorgeschlagenen Instrumente mit den mäßigen Erfolgsaussichten aus dem Schulsystem gar nicht empfehlenswert scheinen. Sie basieren auf der Idee der Chancengleichheit, d.h. dass unterschiedliche Leistungsresultate legitim sind, da sie auf die individuellen Fähigkeiten zurückgeführt werden können. Damit ist die Selektionsfunktion der Schule angesprochen. Dies ist jedoch kaum eine adäquate Zielorientierung für die Institutionen der frühen Bildung, Erziehung und Betreuung, die von der Gruppe der Vierjährigen besucht werden. Hier geht es zuvorderst um Bildungsgleichheit. Damit einher geht eine Rücksichtslosigkeit gegenüber Kindertageseinrichtungen als eigenständige Bildungsinstitutionen, die hier implizit als ‚Zuarbeitende‘ zu einer ‚richtigen‘ Bildungsinstitution degradiert werden. Die Logik des Testens von Leistungen widerspricht in weiten Teilen Ansätzen in Kindertageseinrichtungen, die orientiert an den Interessen und dem Engagement, dem Alltag und Spiel der Kinder gestaltende, bildungsorientierte, emanzipatorische – eben – pädagogische Perspektiven schaffen (dazu auch die Expertise des ITES für den Pestalozzi-Fröbel-Verband: Kaul et al. 2023). Die Möglichkeit, sehr jungen Menschen für sie gestaltbare und pädagogische, von professionell ausgebildeten Fachkräften, verantwortete Räume zur Verfügung zu stellen, wird mit implizit durch Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb legitimierten Argumenten für standardisierte Sprachtestungen in den Hintergrund gedrängt und marginalisiert. Wenn, wie im ersten Zitat unterstrichen wurde, eine Stärkung der Demokratie durch solch ein Bildungssystem erwartet wird, frage ich mich, welche Vorstellungen von sozialem Zusammenhalt mit objektivierten, vergleichenden Testungen bei den jungen Menschen angeregt werden. Die Intention der Unterstützung kann nicht ganz den Eindruck verdrängen, dass hier eine neue Form des Strafens in Kitas für diejenigen eingeführt wird, die aufgrund ihrer Normabweichung im Sprachtest eine ‚individuelle Förderung‘ erhalten (müssen). Deutsch als Zweitsprache wird damit per se zu einer Abweichung und Migration schnell zum Hauptproblem des gesamten Bildungswesens gemacht. 

Zur ganzen Wahrheit gehört auch, und das soll nicht unerwähnt bleiben, dass Kindertageseinrichtungen in sozialstrukturell benachteiligten und von Armut betroffenen Gebieten in besonderer Weise gefördert werden sollen. Der Ansatz der „Startchancen-Kitas“ ist in dieser Variante zu begrüßen und setzt den Akzent stärker auf Bedingungen des Aufwachsens, für die die Bildungs- und Sozialpolitik in hohem Maße Verantwortung tragen. Dieses in Chancen-Fragen verwickelte Konzept wird ein weiterer ITES-Werkstatt-Beitrag diskutieren.

Werden fehlende Zukunftsperspektiven durch autoritäre Züge kompensiert?

Gerade im Kontrast zum vorherigen Koalitionsvertrag aus 2021, der um die Einführung der Kindergrundsicherung gerungen hat, werden stigmatisierende und responsibilisierende Tendenzen sozialpolitischer Adressierungen von Kindern und Familien sichtbar. Eine Stichwortsuche zeigt, dass statt Kinderrechte zu stärken vor allem mit einer spezifischen Schutzbedürftigkeit von Kindern argumentiert wird, z.B. in der Fokussierung von Folgen für Kinder und Jugendliche bei der Evaluation des Selbstbestimmungsgesetzes, bei Fragen von Suchtprävention oder Bewegung und ‚gesunder‘ Ernährung. Im Kontext von Familien in Armutslagen dominiert die Kontrolle der Eltern, denen die Umsetzung eines solchen Schutzauftrages offenbar nicht zugetraut wird. Als Lösung werden eher Kontrollmechanismen anstelle einer Konturierung von zukunftsorientierten und vertrauenssichernden Maßnahmen angeführt, wozu durchaus differenzierte Vorschläge zur Reduktion von Ungleichheiten im 17. Kinder- und Jugendbericht ausführlich dargelegt wurden. 

Im dreigliedrigen Bildungssystem werden seit Jahrzehnten Kinder vorwiegend als Humankapital positioniert und in diesem Sinne auch spezifische Förderbedarfe entwickelt, anstatt das Bildungswesen und seine Maßnahmen selbst als potentiell demokratiefördernd in den Blick zu nehmen. Karin Prien, jetzt ehemalige Schleswig-Holsteinische Ministerin für Bildung, ist mit dem Plan einer flächendeckenden Einführung von Sprachtests für alle Vierjährigen im Bundesland am Sozialministerium noch gescheitert. Dass sie in Berlin nun ein Bundesministerium mit neuem Zuschnitt vorfindet, in dem Bildung und Familie vereint werden, scheint kein Zufall zu sein. Die Konzeptionen scheinen geprägt von Misstrauen gegenüber Familien und insbesondere marginalisierten Familien sowie meritokratischen Versprechen an die zukünftigen arbeitenden Subjekte, wodurch Signale von Solidarität und kritische Perspektiven auf (generationale) Ungleichheitsverhältnisse ausgeblendet bleiben. Es scheint, als würden autoritäre Platzzuweisungen ersetzen, was an tragenden Ideen für die Zukunft fehlt. 

Literatur

Bertelsmannstiftung (2018). Kommt das Geld bei den Kinder an? Bielefeld: Eigenverlag. 

Kaul, Ina; Cloos, Peter; Simon, Stephanie; Thole, Werner; Münder, Johannes (2023). Rethinking frühkindliche “Erziehung, Bildung und Betreuung“. Fachwissenschaftliche und rechtliche Vermessungen zum Bildungsanspruch in der Kindertagesbetreuung. Expertise im Auftrag des Pestalozzi-Fröbel-Verbandes. Berlin. 

Lochner, Barbara; Prigge, Jessica; Simon, Stephanie (2018). Das Bildungs- und Teilhabepaket als „schizophrene Geschichte“? Perspektiven von Frühpädagog_innen auf sozialstaatliche Unterstützung. In Sozial Extra 42(3), 42-45.

Autor*innen-Profil
Jessica Prigge

Jessica Prigge, M.A., ist Mitglied im ITES und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Armut und soziale Ungleichheiten in der Sozial- und Kindheitspädagogik, Professionalisierung und Evaluation, Didaktik der Sozialpädagogik und rekonstruktiv-qualitative Sozialforschung.

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