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Aufstieg oder Ausstieg?

Handlungsfähigkeit angesichts von Armut und Gewalt bei Olivier David

Das neue Buch von Olivier David – Denkimpulse

Armut, Gewalt und psychische Erkrankung hängen miteinander zusammen – dies ist vielleicht die Kernthese des kürzlich erschienenen Buches „Keine Aufstiegsgeschichte – Warum Armut psychisch krank macht“ von Olivier David. Bereits der erste Teil des Titels regt zur kritischen Reflexion an: Sind Aufstiegsgeschichten (gegenwärtig) ein populärer Trend, der kritikwürdig ist? Sind sie verwoben mit einer androzentrischen und neoliberalen Logik, die Individualität und Daueroptimierung idealisiert und demgegenüber Verbundenheit oder Reproduktion in den Bereich des Marginalen verschiebt? Versprechen sie die Möglichkeit einer Aufhebung der Widersprüche kapitalistischer Re-/Produktion, die dabei jedoch auf Themen wie Verteilungsgerechtigkeit, Mobilität und Anerkennung reduziert werden? Was macht überhaupt eine Geschichte zur Aufstiegsgeschichte? Ist es eine Art von Widerstand, eine Nicht-Aufstiegsgeschichte zu erzählen? Kann eine Person mit Armutsbiographie überhaupt keine Aufstiegsgeschichte schreiben, wenn doch das Schreiben eines Buches, einhergehend mit Interviews für die Süddeutsche Zeitung oder Deutschlandfunk von einer gesellschaftlichen Teilhabe in Form von Diskursgestaltung zeugen, die gegenüber den durchschnittlichen Teilhabemöglichkeiten armer Menschen eindeutig im Vorteil ist?

Spurensuche nach Handlungsfähigkeit

Der Autor vermittelt seine These anhand biographischer Episoden aus der eigenen Vergangenheit sowie Tagebucheinträgen aus der Zeit des Buchschreibens, in beidem geht es immer wieder um die Suche nach Handlungsfähigkeit angesichts von Armut und Gewalt. David beschreibt einige Phänomene, die auch in anderen thematisch ähnlichen Texten enthalten sind: ein Wohnumfeld, das von Drogen und Gewalt vor allem von Männern vor allem gegen ihre Partnerinnen und Kinder charakterisiert ist; der Einfluss der familiären prekären Lebenslage auf das eigene Erleben und Handeln und das Wandern der sozioökonomischen Situation hinein in den eigenen Körper; die Diskrepanz zwischen dem eigenen Habitus und dem Selbstverständnis von Angehörigen anderer Milieus und Schichten, die sich der sozialen Gebundenheit ihrer Sicht nicht bewusst sind. 

Eine Besonderheit des Beitrags von David scheint mir zum einen sein Fokus auf die psychischen Belastungen, die mit Armut und Gewalterleben einhergehen zu sein. Das Buch beginnt mit einem Prolog, in welchem der Autor den Beginn einer Therapie im Sommer 2019 schildert, in der Folge sammelt er Diagnosen wie Depression, PTBS und ADHS. Er legt dar, wie Armut, Gewalt und psychische Erkrankungen einander bedingen und wie dieser Zusammenhang auch in seinem Fall dafür sorgt, dass er in prekären Arbeitsverhältnissen lebt: einer Ausbildung an einer privaten Schauspielschule (finanziert durch Schüler*innen-Bafög, Arbeitsaufnahme der Mutter und eigene Nebenjobs) folgten Anstellungen im Kindertheaterbereich, die seinen Lebensunterhalt nicht sicherten, so dass er Gelegenheitsjobs ausüben musste. Ein Volontariat bei einer Zeitung brach er aufgrund psychischer Belastung ab. Davids Geschichte verdeutlicht einmal mehr, dass Armut krank macht und sich darüber selbst erhält – und wie unheimlich schwer es ist, aus dieser Dynamik auszusteigen.

Das eigene Handeln als Teil von Herrschaftsverhältnissen

Zum anderen präsentiert David bewusst eine linke Perspektive aus einem Milieu, das nicht dem allmählich zum Klischee verkommenen Bild von ehemals links, neuerdings rechts wählenden Arbeiter*innen entspricht. David schließt auch sich selbst in Herrschaftskritik ein, wenn er sein eigenes Handeln auf rassistische Elemente hin befragt. Sich nicht als reines Opfer der Verhältnisse zu inszenieren, sondern sich als Teil davon zu begreifen, hebt die Perfidität von Dominanz und Ausbeutung hervor: Sie verlocken dazu, mitzumachen und zu akzeptieren und sichern sich über die dadurch entstehende Scham ab. Die Ablehnung, seine Geschichte als die eines Aufstiegs zu betiteln, kann so auch als Verweigerung dieser Involvierungs-Beschämungs-Dynamik gelesen werden und macht dieses Buch zu einer Ausstiegsgeschichte, wie der Autor auch selbst im Epilog schreibt. Dass er sich dabei auch auf soziologische Analysen zur „Abstiegsgesellschaft“ bezieht, verdeutlicht auch: Aus Erfahrung wird klug, wer deren gesellschaftliche Vermitteltheit analysiert, und eine solche Analyse kann die Suche nach Alternativen stärken.

Dann bleibt aber die Frage, auf welche Herrschaftsverhältnisse sich der Ausstieg bezieht – und auf welche möglicherweise nicht. Bei einer Geschichte, in der es um die Suche nach mehr selbstbestimmter Handlungsfähigkeit geht, scheint mir wichtig zu fragen, inwiefern darin ein Ideal eines autonomen Subjekts enthalten ist und inwiefern dieses männlich konnotiert ist. Denn die Kritiken am Ideal des autonomen Subjekts haben unter anderem gezeigt, dass in diesem Ideal die Angewiesenheit auf Andere – das eigene Bedürftig-Sein und die Konfrontation mit der Bedürftigkeit anderer – als fundamentaler Aspekt menschlicher Existenz vernachlässigt wird. Die gesellschaftliche Organisation des Umgangs mit diesem Angewiesensein ist zentrales Thema feministischer Praxis, weil sie eine wesentliche Ursache für sexistische Verhältnisse ist. Möglichkeiten zur Autonomie für die Einen basieren auf Fremdbestimmung und Zuständigkeit für Bedürftigkeit für Andere. Deshalb ist es sinnvoll, in einer auf Ungleichheit bezogenen Erzählung die darin enthaltenen Verhältnisse von Autonomie und Heteronomie zu entschlüsseln und nach den Voraussetzungen einer gewonnenen Autonomie zu fragen. 

Geschlecht im Kontext von Auf- und Ausstieg

Der Autor erscheint im Text einerseits als bedürftig und auf Unterstützung angewiesen, andererseits als nach Selbstbestimmung strebend. Damit positioniert er sich gegen verbreitete Männlichkeits- und Subjektideale, denn er erscheint nicht als souveräner Meister seiner Herausforderungen, sondern als in Verhältnisse verstrickt, die sich einer vollständigen Verfügung entziehen. Er zielt auch nicht auf völlige Autonomie und Unabhängigkeit, sondern arbeitet an einer Verbesserung seiner Beziehungen (insbesondere zu seinem Vater) – er bleibt als relationales Subjekt präsent. Zugleich sind es jedoch eher Frauen, die unbezahlte Sorgearbeit leisten. Es sind vor allem die Mutter und die Partnerin des Autoren, die mit Fürsorgetätigkeiten in Erscheinung treten. Der Vater hingegen entzieht sich weitestgehend und auch der Autor selbst tritt nur wenig als in Sorgearbeit verwickelt in Erscheinung (durchaus jedoch als involviert in solidarische Praxis). Letzteres ist verständlich und soll hier nicht als Vorwurf verstanden werden. Dennoch bleibt die Frage offen, ob Auf- und Ausstiege eine Arbeit voraussetzen, die zu wenig anerkannt wird und mittels Geschlechterstereotypen und –hierarchien organisiert wird. Es könnte eine Aufgabe tiefergehender Analysen sein, sich anhand von Davids Buch dieser Frage zu widmen, wie dies etwa im Fall von Didier Eribon bereits geschehen ist.


Zitiervorschlag: Rieske, T. V. (2022). Aufstieg oder Ausstieg? Handlungsfähigkeit
angesichts von Armut und Gewalt bei Olivier David. Das neue Buch von
Olivier David – Denkimpulse. Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_20220316_17

Autor*innen-Profil
Thomas Viola Rieske

Thomas Viola Rieske, Dr. phil., Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Elementarpädagogik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Arbeitsschwerpunkte: Praktiken und Prozesse der Erziehung und Bildung von Jungen und Männern, Theorie und Praxis geschlechterreflektierter und Antidiskriminierungspädagogik und Prävention von (sexualisierter) Gewalt in pädagogischen Kontexten.

Homepage: https://www.evh-bochum.de/hauptamtlich-lehrende.html?show=883

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Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Ina Kaul

    Danke für diese sehr spannende Darstellung. Ich empfinde es zugleich auch als Privileg, über sich selbst kritisch nachdenken zu dürfen, z.B. weil man (so meine Interpretation ohne dieses Buch gelesen zu haben) nicht in basale Sorgearbeit verwickelt ist. In diesem Zuge finde ich die sprachliche Setzung der Sorgearbeit bedeutsam, die über das Wort SORGE auch stark emotional aufgeladen ist und ja möglicherweise auch noch einmal anders belastet. Den Verweis zu Eribon kann ich nur unterstützen. Eine sehr interessante Nachzeichnung gesellschaftlicher und geschlechtlicher Verschränkungen. Danke also für die Lektüreanregung.

  2. Danke für den spannenden Beitrag und die kritische Auseinandersetzung, die mehr als eine Rezension ist!
    Bei aller Differenz der Lebensgeschichten und Erzählformen scheint mir sowohl bei deiner Analyse von David, als auch bei den autobiographischen Erzählungen von Eribon deutlich zu werden, dass wir bisher noch zu oft den Begriff der „Aufstiegsbiographie“ oder auch des „Aufstiegs“ generell übernommen haben, ohne die kapitalistisch-hierarchische Gesellschaftsgliederung analytisch genauer in den Blick zu nehmen. Dein Text regt gerade dazu sehr deutlich an und auch bei Eribon liegt die Stärke möglicherweise darin, die Kosten für diesen vermeintlichen „Aufstieg“ genauer in den Blick zu nehmen und dann im Zweifel die Idee des Aufstiegs zu kassieren, weil sie zu vieles ausblendet und einseitig überformt.