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„Ich erzähl die Welt, wie sie mir gefällt“

Ähnlich wie auch „Pippi Langstrumpf“ von ihrer Erfinderin Astrid Lindgren als in einer fantastisch-erfundenen Welt mit außergewöhnlichen Handlungsoptionen und Gegebenheiten erzählt wird, erzählen alle Menschen Geschichten mal mehr, mal weniger fiktiv, nie jedoch als absolute Realität. Was diese und andere Realitätskonstruktionen mit der Identitätsfindung – für diesen Beitrag auf die Adoleszenz bezogen – gemeinsam haben, wird folgend, angelehnt an die Ausarbeitung meiner Masterarbeit mit dem Titel „,Erzählte Räume‘ – Über Jugendliche zwischen Identitätssuche und Identitätskonstruktion anhand einer pluralisierenden Gesellschaft“, nur in Kürze, dargestellt.

Von der Geschichte zur Identität

Die Identitätsbildung von Jugendlichen hängt mit verschiedenen Aspekten zusammen: z.B. der Peergroup, dem Differenzieren zwischen Ich und Wir, der Abgrenzung, dem Ausprobieren und Annehmen gesellschaftlicher Verhaltensweisen und Rollen. Diese werden u.a. angetrieben durch gesellschaftliche sowie eigene Erwartungen an sich und die Gesellschaft. Durch Ausprobieren und Aneignen vollziehen sich Persönlichkeits- und Identitätsprozesse. Die Identität ist damit stets im Wandel (vgl. u.a. Erikson 1981; Mead 1934/2001). Jugendliche mit Migrationserfahrung oder im Migrationsprozess erleben dabei eine doppelte Transformationsforderung durch adoleszenz- und migrationsbedingte Prozesse. Dabei spielen Erfahrungen von Trennung, die Auseinandersetzung mit dem Unbekannten und der sozialen sowie räumlichen Verortung eine wichtige Rolle (vgl. Günther et al. 2010, S. 23).

Die unterschiedliche Rolleneinnahme im Alltag, so Erving Goffman, dient nicht nur der Sozialisation in Gesellschaftsgruppen, sondern auch als Selbstpräsentation. Damit lässt sich die Wahrnehmung des Gegenübers vom eigenen Erscheinungsbild kontrollieren (vgl. Goffman 2019). Nicht nur die Rolleneinnahme, sondern auch das Erzählen von Geschichten über sich selbst und die eigene Rolle als Selbst-Narration ist Teil der Identitätskonstruktion. Dabei entstehen narrative Identitäten und „erzählte“ Räume.

Biographisches Spielfilmprojekt

Im Interesse meiner Masterarbeit standen die Selbstpräsentationen und Identitätskonstruktionen Jugendlicher anhand ihrer selbst niedergeschriebenen biographischen Geschichten, welche in einem biographischen Spielfilmprojekt unter der Methode der Biographischen Spielfilmpädagogik (vgl. Nolle 2019) zu dem Thema „Gewalt und Angst“ verfasst wurden. Der Begriff der Gewalt wird in diesem Beitrag als eine emotionsmotivierte und situativ aktivierte Zufügung von physischen und auch zum Teil psychischen Schäden, auch im Sinne der symbolischen Gewalt, verstanden, deren Kontext und Entstehung mit betrachtet werden soll (vgl. Montenbruck 2010).

Die Geschichten der teilnehmenden Jugendlichen innerhalb eines Spielfilmprojekts werden unter einer bestimmten Herangehensweise zu einem Drehbuch zusammengeführt und schließlich durch und mit den teilnehmenden Jugendlichen und Statisten innerhalb von insgesamt 12 Projekttagen verfilmt und schließlich einer Teilöffentlichkeit vorgeführt.

Zur Forschungsfrage

Die Teilnehmenden des Spielfilmprojekts präsentierten sich über ihre Geschichten auf bestimmte Weisen, die sich in ihrem weiteren Verhalten nicht bestätigen ließen. So ergab sich die Frage, wie Jugendliche sich im Kontext der erwarteten Selbstpräsentation durch verschriftlichte, selbsterlebte Geschichten ihre eigene konstruierte und wahrgenommene Identität darstellen und was sie zu einer solchen Selbstpräsentation veranlasst.

Um der Frage nachzugehen wurden zwei konträr stehende Geschichten ausgewählt und durch die Methode der objektiven Hermeneutik (u.a. Oevermann 1981) in Bezug auf die Selbstpräsentation und Identitätsbildung im Kontext von Gewaltdarstellung der eigenen niedergeschriebenen Geschichten analysiert, ausgewertet und verglichen. Dabei wurden Geschlecht und Herkunft ausgeblendet.

Das Ich und mein Selbst in meiner Geschichte

In der ersten ausgewählten Geschichte zum Thema Gewalt geht es um eine Person, präsentiert als Protagonist*in, die von einer anderen Person beleidigt wird, woraufhin die Protagonist*in die beleidigende Person schlägt. Die erste Person wird von Freund*innen zurückgezogen und die geschlagene Person liegt auf dem Boden im Schulflur und weint.

In der zweiten Geschichte geht es darum, dass die schreibende Person mit ihrer Familie, während des Kriegsausbruchs in Syrien war und morgens schreiende, bewaffnete Männer zunächst hörte und dann sah. Die verfassende Person wusste die Situation nicht einzuschätzen und bekam Angst. Der Vater besorgte zur Flucht ein Auto, um die Familie in das Heimatdorf [Aleppo] zu bringen. Zu einem späteren, nicht genau benannten Zeitpunkt, fuhren die schreibende Person und der Vater wieder nach Aleppo, um dort gebliebenen Sachen zu holen.

Die Zusammenfassung der Geschichten soll nahe an den selbstgeschriebenen Geschichten der teilnehmenden Jugendlichen bleiben, um den narrativen Verlauf besser nachvollziehen zu können.  Beide Geschichten zeigen in ihrer Kürze und im Kontrast zueinander enorme Gewalterfahrungen und Gewaltakte. Die erste Geschichte präsentiert symbolische, psychische sowie physische Gewalt, ausgelöst von zwei Parteien. Die zweite Geschichte präsentiert eine Angsterfahrung, ausgelöst durch die verschiedenen Arten von Gewalt, die durch Kriegssituationen entstehen.

Während sich die schreibende Person der ersten Geschichte zunächst als Opfer und dann als Täter von Gewalttaten präsentiert, unter der Empfindung der Opferrolle und der „Ehrverletzung“, wodurch Gewaltanwendungen legitimiert wirken, stellt sich die verfassende Person der zweiten Geschichte selbst in einer passiven Angstposition dar.

In der Art der Darstellung der Geschichten spielen Worte eine wichtige Rolle, denn diese haben die Macht, die Situation bildlich darzustellen, Situationen handlebar zu machen und an Rollen innerhalb der Geschichten zu glauben. Die Darstellenden sind sich dieser Macht nicht immer bewusst. Doch schaffen sie es, durch die Worte nicht nur einen erzählten Raum zu konstruieren, in dem sie ein Bild von sich und ihrer Umwelt, die sie wahrgenommen und interpretiert haben, zu kreieren. Sie schaffen es dadurch auch selbst, ihre Persönlichkeit und Identität zu formen und zu konstruieren.

Die Selbstpräsentationen der beiden schreibenden Personen sind sehr unterschiedlich. Die Person der ersten Geschichte lässt eine Identität vermuten, die sich über Kraft, Überlegenheit, das Verteidigen des Selbst und der Ehre auszeichnen möchte. Die Darstellung der Geschichte lässt vermuten, dass die Person sich selbst öfter auf diese Weise verteidigen musste und sich somit diese Art eines Handlungsweges als Lösung angeeignet hat.

Die Person der zweiten Geschichte zeigt innerhalb ihrer Geschichte eine Gemeinschafts- oder Familienzugehörigkeit und setzt sich selbst nur in explizit die Person selbst betreffenden Kontexten in Verbindung mit eigenen Gefühlen, in den beschriebenen Situationen in den Vordergrund. Daraus kann eine ausgebildete Selbst- und Fremdwahrnehmungskompetenz als auch eine hohe Reflexionskompetenz geschlossen werden.

Beide Geschichten spiegeln die Wahrnehmung von Gewalt auf unterschiedliche Weise wider und beide Personen zeigen eine Identität und Persönlichkeit, die von unterschiedlichen Formen der Gewalt geprägt ist.

Rekonstruktionen von Wirklichkeiten

Die Gewaltsituationen, die die Autor*innen aus ihrer Wahrnehmung heraus präsentierten, spiegeln die Wirklichkeit wider, die sich in diesem Moment für die Autor*innen der Geschichten zu erkennen gab. Dementsprechend rekonstruierten die Jugendlichen die erlebten Situationen aus ihrer aktuellen Sicht auf die damaligen Geschehnisse. Durch das Erzählen oder Aufschreiben der eigenen Geschichte werden Emotionen, Weltverhältnisse und Situationen reflektiert. Nicht zuletzt durch individuelle Wahrnehmung, Emotionen und Gedanken gestaltet sich die eigene Welt und das eigene Selbst. Die Teilnehmenden schufen mit und durch die Darstellung ihrer Geschichten und der eigenen Person einen erzählten Raum, eine erzählte Welt, in dem sie sich ausprobieren, inszenieren, neu oder anders erfinden, neue Handlungsmöglichkeiten einbinden und somit ihre Identität konstruieren konnten.

Dieser Beitrag schließt mit dem Plädoyer, die Macht, die sich durch erzählte Geschichten oder erzählte Räume auf die Identitäten von Menschen auswirken, bewusster zu machen und Vorurteile, auch gegenüber nicht selten offensichtlich konstruierten Realitäten, zu hinterfragen. Die Geschichten hinter einer Identität, einer Erzählung oder einer Selbstpräsentation bleiben der Rezipienten*in meist verborgen, können mit Feingefühl sichtbar oder erlebbar gemacht werden. Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern nur individuelle (Re-)Konstruktionen, die ihre Wirkung auf das Individuum, den Raum und die Gesellschaft haben. Der Zugang zu den Menschen, egal welchen Alters und mit welcher Geschichte, läuft nur über die Identität, über Vertrauen, Anerkennung, Einfühlsamkeit, Akzeptanz und Offenheit für das Unbekannte.

Literatur

Erikson, Erik H. (1981): Identität und Lebenszyklus. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 16). (7. Aufl.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.;

Gilcher-Holtey, Ingrid (2013): Dimensionen des Begriffs „Gewalt“ in literarischer Begleitung. In: Hiroko Masumoto (Hrsg.): Ästhetik der Dinge – Diskurse der Gewalt (S. 117-137). München: IUDICUM Verlag GmbH.

Goffman, Erving (2019): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (18. Aufl.). München: Piper Verlag GmbH.

Günther; Marga, Wischmann, Anke, Zölch, Janina (2010): Chancen und Risiken im Kontext von Migration und Adoleszenz: eine Fallstudie. (Diskurs Kindheits- und Jugendforschung / Discourse. Journal of Childhood and Adolescence Research, Bd. 5(1)), (S.21-32). Verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-354531.

Meat, Georg Herbert (1934/2001): „Mind, Self, an Society“. In: Joseph Margolis, Jacques Catudal (Hrsg.): The quarrel between invariance anf flux. A Guide for Philosophers and other Players. (GPPC. Greater Philadelphia Philosophy Consortium). (S. 223-234). Pennsylvania: The Pennsylvania State University.

Nolle, Reinhard (2019): Spielfilmprojekte „Gegen Gewalt und Rassismus – für Respekt“. In: die Medienanstalt (Hrsg.): Der Ton wird härter. Hass, Mobbing und Extremismus. Maßnahmen, Projekte und Forderungen aus Sicht der Landesmedienanstalten (Jugendschutz- und Medienkompetenzbericht), (S. 140-141). Berlin: Vistas.

Oevermann, Ulrich (1981): Fallrekonstruktion und Strukturgeneralisierung als Beitrag der objektiven Hermeneutik zur soziologisch-strukturtheoretischen Analyse. Verfügbar auf: http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/docId/4955 (29.03.2020).

Autor*innen-Profil

Tatjana Koplack ist Sozialpädagogin, Medienpädagogin und geschäftsführende Gesellschafterin der "Aktiven Medienwerkstatt Kassel". Zudem ist sie Lehrbeauftragte an der Universität Kassel im Institut für Sozialwesen und lehrt dort die Grundlagen der biographischen Spielfilmarbeit und ihren Einsatz in sozialpädagogischen Handlungsfeldern.

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