Kuriose Lösungsvorschläge zum Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen
In Kindertageseinrichtungen in Deutschland sind nach einer Vollerhebung des Fachkräftebarometers Frühe Bildung (2023) zufolge, welcher von der Weiterbildungsinitiative frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) am Deutschen Jugendinstitut (DJI) veröffentlicht wurde, derzeit 841.840 Beschäftigte tätig – so viele wie nie zuvor. Von diesen wiederum sind 722.000 Arbeitnehmer*innen pädagogisch und leitend tätig. Diese frühpädagogischen Fachkräfte betreuen, bilden und erziehen unter professionellen Standards im Jahr 2022 insg. knapp 3,9 Mio. Kinder in Einrichtungen der frühen Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE). Die Tendenz ist steigend und auch der Ausbau der Qualifizierungsmöglichkeiten schreitet unter großer Nachfrage weiter voran.
Triggerthema Fachkräftemangel?
Es fehlen jedoch – auch das wird derzeit allerorts berichtet – bis zu 90.000 pädagogische Fachkräfte in Kitas und Ganztagsbetreuung (BMFSFJ 2024), wobei die Berechnungen des Kinder- und Jugendhilfereports (2024, S. 271) unter Berücksichtigung der altersbedingten Berentungen des Personals, des Rückgangs der Geburten sowie der steigenden Absolvent*innenzahlen im Jahr 2035 von einem Fehlen von 14.500-72.000 Fachkräften ausgehen. Als Gründe dafür lässt sich weniger die zunehmende Erwerbsarbeit von Frauen* anführen, als das nicht im gleichen Maße ansteigende väterliche Engagement in der familialen Care-Arbeit. Dies lässt sich auch als plausibler Grund anführen, dass 61 % der überwiegend weiblichen Fachkräfte in Kitas selbst lediglich in Teilzeit erwerbstätig sind (Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2023, S. 7).
Es ist nicht zu verleugnen, dass die Kolleg*innen in der Praxis seit Jahren am Limit ihrer Kräfte und Kapazitäten arbeiten – der Betreuungsschlüssel wird als zu hoch eingeschätzt, und die Aufgaben der FBBE werden immer mehr: Dokumentation, Sprachförderung, Inklusion, um nur die prominentesten Triggerthemen zu nennen, die in dieser Diskussion gern als Belastungen aufgerufen werden. Der Fachkräftemangel betrifft jedoch nicht exklusiv den Bereich der FBBE – sondern das gesamte Gesundheits- und Bildungssystem sowie weite Teile des Handwerks, des Baugewerbes und viele weitere Arbeitsfelder mehr.
Fachkräfteoffensiven wie die der WiFF und andere Akademisierungs- und Professionalisierungsbemühungen wie der Ausbau von Ausbildungsplätzen und Studiengängen zur Lehramtsausbildung für die Fachschulen schreiten zwar voran, werden jedoch nicht die akute Krise sofort, sondern mit Zeitverzug zu bewältigen helfen. Auch die Bundesregierung hat unter Lisa Paus Vorschläge vorgelegt, wie man dem Fachkräftemangel in der Kinder- und Jugendhilfe entgegnen kann. In dem unter Beteiligung vieler Bundesressorts, u.a. BMBF, BMFSFJ, BMAS, aber auch der KMK und weiteren Akteur*innen angefertigten Empfehlungs- und Strategiepapier, das im Frühsommer 2024 erschienen ist, wird v.a. skizziert, wie sich die Rahmenbedingungen der Ausbildung und Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe verbessern lassen, um Fachkräfte langfristig zu sichern. Da geht es z.B. um berufliche Orientierungs- und Beratungsangebote, aber auch um die Möglichkeit von Quereinstieg ohne einschlägige Vorqualifikation „für unterstützende Aufgaben“ (BMFSFJ 2024, S. 11), die Möglichkeiten von Umschulungen, der Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen usw. Aber auch dies wird seine Zeit dauern und die Effekte solcher Bemühungen werden mit Verzögerung eintreten. Ohne die Vor- und Nachteile der jeweiligen Vorschläge im Einzelnen zu diskutieren, zeigen sie doch auf, verwoben Fragen der Bekämpfung des Fachkräftemangels mit Qualifizierungsfragen und weiteren Professionalisierungsdynamiken sind.
Einigen Akteur*innen gehen diese Bemühungen scheinbar nicht schnell genug, und so häuften sich in den letzten Monaten Vorschläge verschiedenster Seiten, wie sich der prognostizierte respektive bereits eingetretene Fachräftemangel lösen ließe. Einige davon sind bildungs- und disziplinpolitisch sowie auf sozialer Ebene problematisch, andere schlicht naiv. Ein kleiner Einblick:
Kuriose Vorschläge I: Re-Familialisierung
Veronika Veerbeck (2024), Hochschullehrerin aus Trier, fordert in einem auf ihrer Homepage verbreiteten Positionspapier „Kita-Kindeswohl im Blick“ eine Abkehr von der in ihren Augen „neuen Kita-Pädagogik“, die sie für die oben skizzierte Misere verantwortlich macht. Im Kern wird dort eine zu frühe außerfamiliale Betreuung mit entwicklungspsychologischen Begründungen abgelehnt; partizipations- und vielfaltsorientierte Pädagogiken, die Kinder als Akteur*innen mit eigenen Rechten und Bedürfnissen adressieren, werden als überfordernd für Kinder dargestellt und Schulvorbereitung eingefordert. Auch eine „pädagogische Autorität“ und das „Setzen von Grenzen“ wird als bedeutsam für die Entwicklung von Kindern erachtet. Es wird ein verzerrtes Bild einer vorgeblich hegemonialen Kindheitspädagogik gezeichnet. Eine detaillierte pädagogische Stellungnahme und Richtigstellung der dort enthaltenen Aussagen findet sich u.a. von der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit (PdfK) auf der Homepage der DGfE platziert. Neben der PdfK haben die Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung und Erziehung in der Kindheit e.V., der Studiengangstag Pädagogik der Kindheit und das Bundesnetzwerk Fortbildung und Beratung in der Frühpädagogik e.V. daran mitgearbeitet und liefern zu dem skizzierten Szenario viele Gegenargumente und -beweise und Richtigstellungen aus Theorie, Forschung und Praxis. Im Kern favorisiert die kritisierte Stellungnahme eine Re-Familialisierung der frühkindlichen Betreuung und essentialisiert und biologisiert die Idee von frühkindlicher Bindung auf exklusiv in der Elternschaft umsetzbar. Zudem werden dort Kinder als defizitär und unselbstständig moduliert, als Objekte von Erziehung, die auf strukturierte Anweisungen und Grenzen von Erwachsenen angewiesen sind, um sich gut entwickeln zu können.
Kuriose Vorschläge II: De-Professionalisierung
Ein weiterer, weniger als krude denn als naiv zu bezeichnender Vorschlag kam vor einigen Wochen vom renommierten Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalani. Dieser berichtet im Deutschlandfunk aus seinem neusten Buch. In dem Buch begründet El-Mafaalani, in welcher Weise Kinder in Deutschland systematisch unsichtbar gemacht werden; als eine vulnerable Gruppe werden Kinder als „Minderheiten ohne Schutz“ herausgestellt. Er greift damit das gesellschaftlich absolut vernachlässigte Thema des Adultismus auf – was sehr begrüßenswert ist, sofern als solches auch benannt (eine vertiefende Lektüre des Werkes steht noch aus). Höchst irritierend ist jedoch, was er aus diesen Diagnosen ableitet und welche Forderungen er in öffentlichen Gesprächen (Podcasts, Zeitschrifteninterviews, Radiointerviews) platziert:
Zur Lösung des Fachkräftemangels wird in einem Kurzinterview aus dem Deutschlandfunk und auch in einem Interview im Januar in der Wochenzeitung Die Zeit vorgeschlagen, dass z.B. Rentner*innen, „Boomer*innen“, die anfallenden Aufgaben im Bildungs- und Betreuungssystem übernehmen könnten. Rechnerisch hätten wir dann keinen Betreuungsengpass mehr und die Pädagog*innen könnten sich auf die eigentlichen Themen fokussieren. Denn der „Bildungsabstieg müsse erstmal gestoppt werden“. Und das, so scheinen weite Teile der Gesellschaft offensichtlich anzunehmen, sei die primäre Aufgabe auch von Kindertageseinrichtungen. Neben der De-Professionalisierung, die eintreten würde, würden nun Rentner*innen in Scharen in die Kindertageseinrichtungen strömen, um dort Betreuung und Erziehung nach Gefühl umzusetzen, befürchte ich einen autoritären Backlash auf dem Rücken der Kinder. Denn das von Aladin El-Mafaalani skizzierte Problem dieser Gesellschaft besteht ja gerade darin, dass es so etwas wie die generationale Ordnung gibt, die von vielen Erwachsenen als Begründung genutzt wird, sich über Kinder zu stellen und über deren Köpfe hinweg zu entscheiden, und deren Rechte zu missachten. Doris Bühler-Niederberger (2023, S. 64) beschreibt dies als generationale Herrschaft, also eine „Vereinnahmung der nächsten Generation im Namen der Zukunft, wie sie sich die ältere Generation vorstellt“. Qualifizierungsfragen und Fragen der beruflichen Profilbildung in der Kindheitspädagogik werden naiv verkürzt oder ihnen wird pauschal eine Absage erteilt, wahlweise zum Wohle der Kinder oder Gesellschaft. Die Frage, wer eigentlich solche Aufgaben übernimmt, mit welchen Vorstellungen von Erziehung, steht gar nicht im Raum. Es scheint fast so, als seien Erwachsene qua ihres Status als Erwachsene dazu befähigt zu erziehen und zu betreuen. Ist das nicht Adultismus at it‘s best?
Beide Vorschläge tendieren dazu, vereinfachte Antworten zu geben für komplexe, gesellschaftliche Probleme, wie sie im Bildungswesen, geprägt vom Föderalismus, oder in der Kinder- und Jugendhilfe, geprägt von heterogenen Akteurskonstellationen, hervorgebracht werden. In neueren Diskursen lässt sich dieses Phänomen immer wieder beobachten, was die Autor*innen Robert Wunsch und Irmgard Monecke anhand empirischer Materialien als ‚Pädagogischen Populismus‘ (2022) beschrieben haben. Dabei haben sie jedoch eher Populärwissenschaftler*innen (Richard David Precht oder Michael Hüter) im Blick. Zumindest sensibilisieren sie aber dafür, Dramatisierungen zur Kenntnis zu nehmen und Differenzierungen der Erkenntnisse einzufordern.
Alles in allem folgen beide argumentative Figuren, die Re-Familialisierung sowie die De-Professionalisierung einer affirmativen Logik des herrschenden spätkapitalistischen Wirtschaftssystems. Die Kinder sollen zu Humankapital ausgebildet werden, damit die Wirtschaft in Deutschland floriert und die Rentenlücke nicht zu groß wird. Mit welchen Mitteln und was dabei in Kauf genommen wird, wird nicht berücksichtigt. Die freie Zeit zum ungezielten Spielen, Reden, Nachdenken und Sein, die Peer-Interaktionen und Freundschaftsbeziehungen, die fern vom Zutun der Erwachsenen sich herstellen und entfalten, aber die geschützt sind durch das professionelle Auge, Ohr und Dabeisein der Fachkräfte, werden so abgewertet und eingehegt.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2024): Gesamtstrategie Fachkräfte in Kitas und Ganztag. Berlin.
Bühler-Niederberger, Doris (2023): Das Ende der Geschichte? Gegenwart der Kinder oder Zukunft der Gesellschaft? In: Drerup, Johannes/Schweiger, Gottfried (Hrsg.): Philosophie der Kindheit (S. 35–65). Berlin: Suhrkamp.
El-Mafaalani, Aladin, Kurtenbach, Sebastian & Strohmeier, Klaus-Peter (2024): Kinder. Minderheiten ohne Schutz. Aufwachsen in der alternden Gesellschaft. Köln: KiWi.
Autorengruppe Fachkräftebarometer (2023): Fachkräftebarometer Frühe Bildung. München: DJI.
Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (2024): Kinder- & Jugendhilfereport 2024. Eine kennzahlenbasierte Analyse mit einem Schwerpunkt auf Fachkräftemangel. Opladen: Barbara Budrich.
Stellungnahme zum Aufruf „Kita-Kindeswohl im Blick“ https://www.dgfe.de/fileadmin/OrdnerRedakteure/Sektionen/Sek08_SozPaed/PFK/2025.02_Ad_hoc_Stellungnahme_Kita_Wohl_final.pdfWunsch, Robert & Monecke, Irmgard (2022): Pädagogischer Populismus. Weinheim u.a.: Beltz Juventa
Die Autorinnen danken ganz herzlich Markus Sauerwein für die kritische Durchsicht und Hinweise!