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Zur ambivalenten Diskussion um Wissenschaftsfreiheit

Wie frei sollten/müssen/dürfen Forschung und Lehre sein?

Zum Rechtsgut der Wissenschaftsfreiheit

Die Festlegung der Wissenschaftsfreiheit ist seit nunmehr 70 Jahren in Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes geregelt. Damit stellt Wissenschaftsfreiheit eines der höchsten Rechtsgüter in Deutschland dar. Elif Özmen (2021) beschreibt die Wissenschaftsfreiheit als „robustes Abwehrrecht“. Dieses schütze „spezifische[.] Personen, Praktiken und Institutionen wissenschaftlicher Rede, Forschung und Publikation zuvorderst gegen staatliche Einflussnahmen, die auf eine Steuerung, Kontrolle und Sanktionierung der Wissenschaft zielen“. Entsprechend definiert die wissenschaftlichen „Spielregeln“ vor allem die Wissenschaftscommunity. Sie entziehen sich staatlicher, gesellschaftlicher oder politischer Regelung. Dennoch existieren Versuche politischer Einflussnahme. Etwa, wenn die rechtsextreme AfD mit großen und kleinen Anfragen immer wieder Versuche unternimmt, den Begriff der Wissenschaftsfreiheit zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zu machen.

Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit vs „rechtsideologische und diskriminierende Lehre“?

Neben äußeren Einflussnahmeversuchen ist es insbesondere das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, welches Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit aus der Wissenschaft selbst thematisieren möchte. Zu diesem Zweck dokumentiert es Vorfälle, in denen die Wissenschaftsfreiheit aus Sicht des Netzwerks zur Disposition stehen. Beispielhaft kann hier der Dissens zwischen dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit und der Landes-Asten-Konferenz Berlin genannt werden. Diese Auseinandersetzung dreht sich um eine Positionierung der Landes-Asten-Konferenz Berlin zu einem Statement des Asta der FU Berlin gegen „rechtsideologische und diskriminierende Lehre“. Zu diesem nimmt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit im Rahmen einer Pressemitteilung vom 11.2.2022 Bezug und erhebt dagegen den Vorwurf der Verletzung der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit.

Studierendeninteressen

Im Rahmen des Statements thematisiert der Asta der FU Berlin das Teilen rassistischer Inhalte und Äußerungen seitens Lehrender an verschiedenen Berliner Hochschulen. Weiterhin fehlen aus Sicht der Studierendenvertretung geeignete Beschwerdemöglichkeiten für Studierende. Die daraus resultierenden Forderungen beziehen sich auf eine Sensibilisierung Studierender und Lehrender im Hinblick auf Diskriminierungs- und Machtverhältnisse. Sie fordern außerdem direkte Reaktionen der Hochschulen auf die Verbreitung rechter, rassistischer und diskriminierender Inhalte seitens Lehrender. Zudem wird sich für eine größere studentische Mitbestimmung bei der Vergabe von Lehrstühlen und Lehraufträgen und für eine kritische Aufarbeitung der Hochschulgeschichte positioniert. Außerdem werden Anlaufstellen für Diskriminierungsbetroffene und auch eine konsequente Positionierung von Hochschulen gegen jegliche Diskriminierungsformen gefordert.

Aus Sicht des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit handelt es sich bei den Forderungen im Statement um eine intolerante und ideologische Betrachtungsweise, die „keine Position außer der eigenen gelten lassen will und Berufsverbote fordert.“ Der Vorwurf des Berufsverbots bezieht sich scheinbar auf die Auseinandersetzung um einen Dozierenden der FU, der rassistisches sowie faschistisches Gedankengut verbreitete. Dieser erhielt in der Folge von Protesten seitens Studierender keine Vertragsverlängerung durch die Hochschule.

Wissenschaftsfreiheit auch in der öffentlichen Debatte

Dieses Beispiel verdeutlicht die Auseinandersetzung darüber, welche Äußerungen im Rahmen von Forschung und Lehre tragbar sind. Diese Auseinandersetzung findet nicht nur zwischen dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit und Studierendenvertretungen statt. Sie werden auch an anderen Stellen ausgetragen, beispielsweise in der Zeitschrift „Forschung und Wissenschaft“ unter der Fragestellung „Macht statt Moral?“ Hier wird die Frage diskutiert, inwiefern Hochschulen einen ethischen Habitus ihren Angehörigen vorgeben dürften. Das geltenden Recht wird dabei als Grenze markiert, nicht aber moralische Aspekte. Kritischer nähert sich beispielsweise die Kulturbühne des Bayrischen Rundfunks dem Thema. Dort wird darauf verwiesen, dass Dissens auch vor der Debatte um „Cancel Culture“ Gegenstand der Auseinandersetzungen an Hochschulen war. Es wird resümiert: „Die Debatte um die Cancel Culture tut nun so, als würde sie für Redefreiheit eintreten. Den Warnern geht es aber offenkundig nur darum, alte Privilegien behalten zu können.“

Trigger-Warnungen als Beispiel für kontroverse Diskussionen

Die zuvor beschriebenen Auseinandersetzungen schlagen sich wiederum im Umgang mit Trigger-Warnungen an Hochschulen nieder. So veröffentlichte das Gleichstellungsbüro der Humboldt Universität Bonn im September 2021 eine Handreichung mit Informationen und Anregungen zum Umgang mit Inhaltshinweisen in der Lehre. Diese zog eine Stellungnahme des Rektorats der Universität nach sich. Die Handreichung selbst möchte „Studierende mit Traumata und psychischen Leiden auf diese potenziell belastenden Inhalte vor[.]bereiten. […] Inhaltshinweise können somit Studierenden die Möglichkeit bieten, eine bewusste und eigenverantwortliche Entscheidung darüber zu treffen.“ Das Ziel des Leitfadens ist die Vermeidung von Retraumatisierungen betroffener Studierender und die Förderung inklusiver Lernumgebungen.

In der Stellungnahme der Hochschule stellt das Rektorat ausdrücklich fest, dass es sich nicht um Grundsätze und Leitlinien der Lehre an der Hochschule handele. Darüber hinaus positionieren sie sich: „Universitäten sind Orte des freien Diskurses. Eine Grundlage hierfür ist eine Universitätskultur, in der weder Lehrende in der Auswahl ihrer Lehrthemen, Lehrinhalte und Lehrbeispiele eingeschränkt noch bestimmte Themen von vorne herein aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen werden. Die Hochschulleitung ist selbstverständlich bereit, in einen Austausch über den „Umgang mit Inhaltshinweisen“ einzutreten. Hierbei bleibt aber die Freiheit der Wissenschaft in Forschung und Lehre die unverrückbare Grundlage der Arbeit der Universität, ihrer Wissenschaftler*innen und Studierenden.“

Diese Auseinandersetzung wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. September 2021 unter dem Titel „Contra Trigger-Warnungen. Die Helikopter-Uni“ aufgegriffen. In einem Kommentar wirft Thomas Thiel dem Gleichstellungsbüro der Humboldt Universität vor, einen „ ,safe space‘ als Rückzugsort von Personen [zu schaffen], die für sich das Recht fordern, von der Welt in Ruhe gelassen zu werden.“

Wissenschaftsfreiheit als Rahmung der eigenen Lehre?

Diese öffentlichen Diskurse tangieren auch das Nachdenken Lehrender hinsichtlich der Gestaltung der eigenen Lehre. Beispielhaft möchte ich dies anhand von Interviewauszügen meines Dissertationsprojekts verdeutlichen. So beschreibt ein Lehrender eine Situation, in der es um die paraphrasierte Wiedergabe von Rassismuserfahrungen seitens Betroffener im Rahmen der eigenen Lehrveranstaltung ging. Diese Paraphrase wurde im Seminar Gegenstand der Diskussion, da das N*Wort gebraucht wurde. Die grundlegende Frage, die dort im Seminar verhandelt wurde, lautete: inwiefern ist es zulässig, Erfahrungen von Rassismus zu repräsentieren und im Seminar das wörtlich wiederzugeben, was und wie es von Betroffenen beschrieben wurde.

Die Lehrperson hebt dabei hervor, es handle sich um eine fehlende Bereitschaft von Teilen der Studierenden, derartige Diskussionen zu führen und nicht als vorentschieden zu betrachten. Aus seiner Position heraus könne man diese Frage nicht vorab entscheiden. Eine Begründung sei in seinem Verständnis des akademischen Diskurses in einem Raum maximal kontroverser Diskussionen auszuhandeln. Dabei müsse man lediglich berücksichtigen, dass diese nicht den Tatbestand der persönlichen Beleidigung, der strafrechtlich relevanten oder wissenschaftlichen Unredlichkeit erfüllten. Hier formuliert er die Frage, wieviel Differenz Hochschulen als sehr spezifische Orte gesellschaftlicher Diskurse ermöglichen, zulassen, akzeptieren können. Und inwiefern sich Hochschulen als hybride Organisationen im Sinne Luhmanns denken ließen, die gleichermaßen eine wissenschaftsvermittelnde wie auch (persönlichkeits-)bildende Funktion innehaben.

Umgang mit (Un-)Sagbarkeiten in der Sozialen Arbeit

Die dahinterstehende Frage verhandelt die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in der Rahmung weiterer Ideale wie Antidiskriminierung, Gerechtigkeit, Gleichstellung oder Affirmation und letztendlich auch Sagbarkeiten im Kontext der Hochschule. Diese Frage muss im Kontext Sozialer Arbeit noch einmal gesondert betrachtet werden, da diese als Disziplin und Profession die Besonderheit einer starken normativen Bindung aufweist. Diese spiegelt sich in der internationalen Definition Sozialer Arbeit der IFSW (2014), wie auch in der Formulierung der berufsethischen Prinzipien des DBSH (2014). Mit dieser Positionierung sind diskriminierende, autoritaristische, rassistische und allgemein gruppenbezogen menschenfeindliche Inhalte zumindest innerhalb der Sozialen Arbeit kein beliebiger Lerngegenstand. Dementsprechend könne man hier nicht „im Rahmen eines offenen dialogischen Selbstverständigungsprozesses jegliche Sichtweise als gleichermaßen gültig und legitim an[.]sehen“, wie Barbara Schäuble und Albert Scherr (2006, S. 95) dies auch für die Bildungsarbeit zu Antisemitismus mit Jugendlichen beschreiben.

In der Positionierung zu einer menschenrechtsbasierten Professionsethik, die auch in der alltäglichen Praxis Niederschlag finden soll, muss eine Verteilung von Leistungen nach Situation, Sympathie oder menschenrechtswidrigen Vorstellung ausgeschlossen werden. Die Adressat*innen Sozialer Arbeit befinden sich in vulnerablen Situationen und nicht zuletzt auch unter der Kontrolle von Sozialarbeitenden. Daraus ergibt sich eine Verletzungsmächtigkeit sozialer Berufe. Und damit unmittelbar verbunden auch eine große Verantwortung Lehrender, Studierende dahingehend zu sensibilisieren (vgl. Radvan und Schäuble 2019, S. 216). Da Studierende nach Abschluss ihres Studiums also in derart sensiblen Zusammenhängen arbeiten, lässt sich der bildende Einfluss mit dem Ziel einer menschenrechtsorientierten Grundhaltung argumentieren.

Die dahinterliegende Frage im speziellen Fall Sozialer Arbeit lautet also, wie eine normative Orientierung im Sinne einer menschenrechtsorientierten Haltung im Rahmen des Studiums vermittelt werden kann und sollte und wo die Grenzen im wissenschaftlichen Diskurs liegen. Hier lässt sich hervorheben, dass eine große Verantwortung bei der jeweiligen Lehrperson liegt, Fragen nach Sagbarkeiten individuell und situativ auszuhandeln. Diese Position ist dann letztlich auch auf etwaige Kritik hin zu begründen oder zu verteidigen.

„Was ist die Hochschule?“ – Sprecher*innenpositionen

Fügt man den Regeln des akademischen Diskurses jedoch weitere hinzu, so ergeben sich daraus weitere Fragen. Eine andere Lehrperson thematisiert:

„Was ist die Hochschule? Da haben wir vor ein paar Wochen ganz lange drüber diskutiert, über Sprache und Sagbarkeit und solche Dinge. Also wer soll in so einem Seminar eigentlich die Möglichkeit haben zu sprechen und was müssen andere aushalten? […]“

Anhand konkreter Lehrerfahrungen berichtet die Person, wie sich Studierende rassistisch äußern. Die Lehrende stellt die Frage, inwiefern diese Aussagen durch eine Intervention mit Verweis auf rassistischen oder diskriminierenden Sprachgebrauch unterbrochen werden müssen. Sie fragt auch, bis zu welchem Punkt dadurch die Möglichkeiten des Lernens der sich rassistisch geäußerten Studierenden einschränken würde. Damit zusammenhängend stellt sich aus Sicht dieser Person die Frage nach der Hochschule als geschützten Raum sowie Grenzen der Sagbarkeiten im Kontext von Forschung Lehre:

„Darf Freiheit von Forschung und Lehre und Wissenschaft alles? Also muss alles sagbar sein? Nein, ich würde sagen, das ist nicht so. Aber wo sind die Grenzen? Wie sind die auszuhandeln? Das ist ein Riesenthema.“

Hier geht es neben der Frage nach Wissenschaftsfreiheit und ihren Grenzen auch um die Verantwortlichkeit der Lehrperson gegenüber Studierenden. Sie beschreibt eine Gratwanderung zwischen der Möglichkeit, dass Studierende sich mit eigenen Positionen diskursiv auseinandersetzen und dem Schutz vor weiteren Diskriminierungserfahrungen für Mitglieder derselben Studierendengruppe. Diese Gratwanderung erscheint für die Lehrperson nicht entschieden und unterliegt Aushandlungsprozessen, welche in Bezug auf die jeweilige Gruppe der Studierenden gestaltet werden.

Festzuhalten ist hier, dass sowohl institutionalisierte Orte innerhalb der Hochschule, aber auch Lehrende und Studierende, reflexive Prozesse vollziehen. Sie handeln aus, was zwischen den Polen des Schutzes von gewalt- oder diskriminierungserfahrenen Personen auf der einen Seite und dem wissenschaftlichen Diskurs als Ort kontroverser Positionen auf der anderen Seite abbildbar sein kann.

Literatur

Radvan, Heike, & Schäuble, Barbara (2019). Rechtsextrem orientierte und organisierte Studierende. Umgangsweisen in Hochschulen Sozialer Arbeit. In M. Köttig und D. Röh (Hrsg.), Soziale Arbeit und Demokratie. Forschung und Praxis der Sozialen

 

Zitiervorschlag: Besche, J. (2022). Zur ambivalenten Diskussion um Wissenschaftsfreiheit. Wie frei sollten/müssen/dürfen Forschung und Lehre sein? Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_2022028_18

 

 

Autor*innen-Profil
Julia Besche

Julia Besche ist Verwalterin der Professur „Normative Rahmungen in der Sozialen Arbeit“ an der Fakultät Management, Soziale Arbeit, Bauen der HAWK Holzminden. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Einflussnahmen recht(sextrem)er Strömungen auf die Disziplin und Profession Sozialer Arbeit, Politische Bildung sowie die Arbeit mit ausstiegswilligen Menschen aus rechtsextremen Kontexten.

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Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Markus Sauerwein

    Danke für den tollen Beitrag, der kurz vor Semesterstart zum Nachdenken anregt. Mir scheinen hier zwei Themen angesprochen zu werden. Wissenschaft und Lehre und ich würde auch bei beidem nochmal Abstufungen vornehmen. Pointiert gesprochen, ist es etwas anderes wenn in einer eher anonymen Vorlesung das N-Wort gebraucht wird, als in einem kleinen Seminar mit 20 Personen, in einem entsprechenden Kontext – sei es persönliche Betroffenheit, Wiedergabe von Praxiserfahrungen etc.
    In der Sozialen Arbeit darf Lehr- und Wissenschaftsfreiheit aber kein Deckmantel sein und eigentlich besteht auch eine professionelle Selbstkontrolle (die über Ethikanträge, die sich aber an einem Medizinischen Paradigma orientieren in der Sozialen Arbeit den Kern verfehlen; hier könnte man über eine sinnvolle Anpassung der eigenen professionellen Selbstverständnisse und ethischen Prinzipien nachdenken).
    Wenn ich den Beitrag aber in Bezug auf die Lehre richtig deute, ist es eine Aufforderung solche Themen selbst aber zum Gegenstand der Lehre zu machen und dies ist sehr inspirierend zum Start des neuen Semesters, in dem viele Studierende die Hochschule das erste mal seit 2 Jahren wieder betreten.