Vergangene Woche startete der zweite Anlauf des Strafverfahrens gegen den Kasseler Universitätsprofessor Dr. Ulrich Kutschera, dem unter anderem Volksverhetzung, Beleidigung und Verleumdung vorgeworfen werden1. Aufhänger des Verfahrens ist ein Interview, das Kutschera 2017 einem Internetportal gegeben hat, in welchem er alte Stereotype und Hass gegen Homosexuelle reproduziert. So verunglimpfte Kutschera – vermeintlich über wissenschaftlich biologisches Wissen abgefedert – homosexuelle Menschen etwa als „Kinderschänder“, verbreitete weitere krude Thesen über LGBTI*Q-Menschen und teilte auch gegen andere Wissenschaftsdisziplinen aus.
Neben der Anklage hat ihm das in rechten Kreisen große Popularität eingebracht. Publikationstätigkeiten für rechte Magazine, mehrere Interviews mit rechten Meinungsmacher*innen, eine Monographie, in der er die Thesen zu Geschlecht und Sexualität weiterdenkt, eine Tätigkeit im Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung und zuletzt auch ein Buch zum Klimawandel, in dem politische Zielsetzungen zur Ausbremsung des Klimawandels als Ideologie beschrieben werden. Kutschera spielt mittlerweile die gesamte Klaviatur rechtspopulistischer Themen2, teilt gegen Frauen und LGBTI*Q-Menschen aus, kritisiert angebliche Gender- und Klimaideologien.
Dass es auch im Jahr 2020 noch weit verbreitete Stereotype, Hass und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gegen LGBTI*Q-Menschen gibt, ist nicht neu. Daher ist das Zentrale am Fall Kutschera auch nicht, dass eine Person diesen Hass öffentlich verbreitet. Problematisch neben den Inhalten selbst, ist, dass Kutschera die Autorität der Wissenschaft und seine Macht als Universitätsprofessor nutzt. Unter dem Deckmantel vermeintlich wahrheitsgemäßer und rationaler Wissenschaft lässt er sich zur Gallionsfigur gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit durch rechte Gruppierungen machen und sorgt dafür, dass alte Hassbotschaften ungeahnte Reichweite erhalten. Diese Macht schützt ihn teilweise auch vor Konsequenzen, weil er neben dem Recht auf freie Meinungsäußerung auch auf die Freiheit der Wissenschaft verweisen kann. Inwieweit diese Rechte und Freiheiten auch Hassbotschaften seitens Professor*innen umfassen, ist die eine Frage, die nun im Verlauf des Prozesses durch Jurist*innen geklärt werden wird. Eine andere Frage ist, ob die Art und Weise, wie Kutschera seine Thesen autorisiert, wissenschaftlich redlich ist.
Kutschera setzt sich in seinen politischen und pseudowissenschaftlichen Schriften insbesondere mit den Gender-Studies und mit Thesen zum Zusammenleben von Menschen auseinander – er bewegt sich somit inhaltlich-disziplinär auf den Gebieten der Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Diese liegen ihm als Pflanzen- und Evolutionsbiologe nicht nur inhaltlich fern, er versteht sie auch nicht und stellt sie zum Teil vermutlich bewusst falsch dar (Krüger-Kirn et al. 2019). Indem Kutschera in seinen Interviews selbst auf seine wissenschaftliche Karriere verweist und etwa damit spielt, dass der Ort Stanford symbolisch durch die Universität Stanford aufgeladen ist, suggeriert er bewusst, seine Thesen seien auf der Grundlage seiner wissenschaftlichen Expertise entstanden. Kutschera setzt somit sein symbolisches Kapital (wie etwa den Titel und bestimmte wissenschaftlich besetzte Symbole) dazu ein, innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses eine autorisierte und ‚ranghohe‘ Stellung einzunehmen und uralte LGBTI*Q-Feindlichkeit im Gewand nüchterner naturwissenschaftlicher Expertise für den aktuellen Diskurs zu re-aktualisieren. Auf der Grundlage biologischer Aussagen formuliert er dabei politische Handlungsanweisungen, was an sich schon problematisch ist, wie die AG Evolutionsbiologie in Kritik an Kutschera formuliert: „Grundsätzlich beruht jede Form der biologischen Rechtfertigung gesellschaftlicher Normen auf dem naturalistischen Fehlschluss, denn aus biologischen Tatsachen folgt kein gesellschaftspolitischer Imperativ!“3
Mit Pierre Bourdieu (2015) lässt sich davon ausgehen, dass auch Wissenschaftler*innen in gesellschaftliche Verteilungsstrukturen eingebunden sind und demnach strategisch um Anerkennung und Geltung innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchien kämpfen, die ihrer Stellung im sozialen Raum entsprechen. Kutscheras wissenschaftliche Laufbahn und seine Professur der Evolutionsbiologie und Pflanzenphysiologie sichert ihm innerhalb der sozialen Matrix die Position zu, im Diskurs einer Informations- und Wissensgesellschaft sprechen zu dürfen und Gehör zu finden. Er bedient sich der Symbolwirkung der Wissenschaft als einer vermeintlich objektiven, rationalen und wahrheitssprechenden Instanz.
Seine fachfremde, aber über den wissenschaftlichen Status aufgeladene Position im sozialen Raum nutzt er, sich als autorisierter Sprecher in den Diskurs um Gender vermeintlich korrektiv einzumischen, da die Erkenntnisse der Gender Studies den eigenen – evolutionsbiologischen – Befunden entgegenstünden. So kritisiert er etwa, dass die Genderforschung von „Gender-Unisexwesen“ oder „Mann-Weib mit wechselnder geschlechtlicher Identität“ ausgehe, was dadurch widerlegt werde, dass die Menschheit dann bereits ausgestorben wäre4. Deutlich wird, dass er den Unterschied zwischen sex und gender in den Sozialwissenschaften nicht nachvollzieht. Kutschera gibt vor, die Gender-Studies behaupteten, dass Körper bewusst geformt und das biologische Geschlecht dadurch ständig austauschbar sei. Gerade Judith Butler, die er besonders deutlich kritisiert, spricht demgegenüber aber explizit vom intelligiblen Geschlecht und betont damit einen komplexen Zusammenhang von Anatomie, sozialem Geschlecht und Praktiken, anhand dessen Geschlechter (an)erkannt werden: „‚Intelligible‘ Geschlechtsidentitäten sind solche, die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrechterhalten.“ (Butler 1991, S. 38) Geschlechternormen bestimmen also, wie Körper wahrgenommen werden und Körperlichkeit selbst ist umgekehrt wesentlich für die Erfahrung von Sozialität und damit auch von Geschlechternormen (Butler 2011). Ohne auf diese Differenz einzugehen, insistiert Kutschera darauf, dass die Begriffe sex und gender biologische Begriffe seien, aber nicht das gleiche meinen, wie in der Biologie und urteilt daher: „Da die ‚Gender Studies‘ biologische Sachverhalte ignorieren bzw. verdrehen, sind sie keine ergebnisoffene Wissenschaft, sondern politische Propaganda.“4 Da Kutschera als Wissenschaftler wissen dürfte, dass es zulässig ist, Begriffe in einem anderen Sinne aufzugreifen, solange sie klar definiert werden, kann das Argument als rhetorischer Kniff gelesen werden. Weil er nicht versteht oder bewusst nicht deutlich macht, dass es in den Gender-Studies im Wesentlichen um die gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechternormen und nur marginal um Aussagen über die Biologie geht, kann er polemisch gegen einen „Genderismus“ austeilen. Erst dadurch, dass er die Komplexität ausradiert, wird es möglich, sich selbst als autorisierten Sprecher der Wissenschaft zu inszenieren.
Es geht Kutschera nicht um den wissenschaftlichen Diskurs, er nutzt seine Reichweite, um sich in die gesellschaftliche Debatte einzuschalten. Wissenschaftlich fraglich ist nicht nur seine diffamierende Sprache, sondern auch, dass er ganze Disziplinen als unwissenschaftlich darstellt, weil ihm die Ergebnisse ihrer Forschung nicht gefallen. Damit lässt sich zwar im rechtspopulistischen Anti-Gender-Diskurs punkten, wissenschaftsethisch ist es allerdings nicht vertretbar. Würde man an seine Aussagen die gleichen Maßstäbe anlegen, die er im oben zitierten Satz aufführt, würde man damit zu dem Schluss kommen, dass es sich bei seinen Aussagen über die Gender-Studies und LGBTI*Q-Lebensweisen nicht um wissenschaftliche Aussagen, sondern politische Propaganda handelt. Entsprechend kommentiert auch die AG EVolutionsbiologie: „Mit der Evolutionstheorie hat die von KUTSCHERA geführte Gender-, TRUMP-, Flüchtlings-, Fortpflanzungs- und Pfefferspraydebatte jedenfalls nicht das Geringste zu tun, und er spricht hier auch nicht für die Evolutionsbiologen in Deutschland. Insofern wäre es wünschenswert, dass der March for Science nicht nur bei Politikern, sondern auch bei so manchen Universitätsprofessoren ein Umdenken herbeiführt: Wissenschaft hat Verantwortung, auch Verantwortung dafür, sich nicht instrumentalisieren zu
lassen. Für die Biologie gilt dies angesichts der deutschen Geschichte in besonderem Maße.“3
Kutschera hat das Recht, sich auch politisch zu äußern. Tut er dies als Wissenschaftler, muss er sich an den Gütekriterien der Wissenschaft messen lassen und das Gebot wissenschaftlich verifizierter und verifizierbarer Argumentationsweisen einhalten. Will er sich darauf nicht einlassen, kann er auch nicht auf die Freiheit der Wissenschaft verweisen.
Zum Weiterlesen: Eine sehr ausführliche und analytisch präzise Diskussion zum Fall Kutschera und dem darüber aufgerufenen Verhältnis von Wissenschaft, Demokratie und Identität findet sich im Beitrag von Ralf Parade, Friederike Thole und Steffen Wittig, der hier frei zugänglich ist: https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00071451
2https://www.fr.de/meinung/ulrich-kutschera-frankfurter-hauptbahnhof-instrumentalisiert-12932424.html
3 http://www.ag-evolutionsbiologie.net/html/2017/biologismus-ulrich-kutschera.html
Bourdieu, Pierre (2015). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (9. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Butler, Judith (1991). Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Butler, Judith (2011). Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Krüger-Kirn, Helga; Näser-Lather, Marion; Lather, Dietger und Schumacher, Nina (2019): Strategien zur Manipulation der Öffentlichkeit. Unwissenschaftliche Kritik an ‚Gender‘ in Ulrich Kutscheras Gender-Paradoxon. In: Marion Näser-Lather, Anna Lena Oldemeier und Dorothee Beck (Hg.): Backlash?! Antifeminismus in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sulzbach/Taunus: Helmer Verlag
Julian Sehmer ist Sprecher des ITES, lehrt im Rahmer einer Verwaltungsprofessur für Soziale Arbeit an der HAWK Göttingen, Hildesheim, Holzminden und begleitet, berät und leitet Projekte des Jugend- & Sozialamtes der Stadt Frankfurt als wiss. Mitarbeiter der Amtsleitung.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Kinderschutz, qualitativ-rekonstruktive Forschung, Fallverstehen und Kasuistik in der Kinder- und Jugendhilfe, subjekt- und queertheoretische Zugänge, Subjektivierungsweisen, Subjektkonstitution und sozialpädagogische Subjekt- und Adressierungspraktiken.
Svenja Marks ist stellv. Sprecherin des ITES und Promotionsstipendiatin am Fachgebiet Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung an der Universität Kassel.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Pädagogische Beziehungen (Intimität, Nähe und Gewalt), Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutz, Professionalisierungsforschung, Erziehungsforschung, Methoden der rekonstruktiven Sozialen Arbeit
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29/07/2020
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