Die Tagung zur Gründungsfeier des ITES am 12. Mai 2022 in Kassel nahm ich zum Anlass darüber nachzudenken, welche Wege denkbar wären für eine „grüne“ Transformation innerhalb der Sozialen Arbeit. Dabei ist es wichtig vorweg festzuhalten, dass mit „grün“ keine politische Orientierung, sondern eine Orientierung an ökologischer Nachhaltigkeit zum Ausdruck gebracht wird. Ich selber halte eine solche (Neu-)Orientierung für dringend geboten, wenn sich Soziale Arbeit nach wie vor als Impulsgeberin für sozialen Wandel verstehen will (vgl. Evers/ Heinze / Olk 2011).
Gleichwohl gibt es empirische Argumente gegen diese Auffassung: Einerseits konnte im Rahmen einer nicht repräsentativen, explorativen Onlineumfrage einer studentischen Forscher*innengruppe der BTU Cottbus-Senftenberg herausgefunden werden, dass im Jahre 2020 über 50% der bundesweit befragten Sozialarbeiter*innen (n=264) angeben, dass Umweltschutz in ihrer Organisation keinen hohen Stellenwert hat (Hensky et. al. 2022). Die Fachkräfte nehmen also überwiegend ihre sozialpädagogischen Organisationen nicht darin wahr, ökologische Fragen als Teil ihrer Ziele und Zuständigkeit zu definieren. In einer repräsentativen Umfrage des Umweltbundesamts im Jahre 2018 zeigte sich darüber hinaus, dass auf die Frage „Auch andere Politikbereiche können sich auf den Umwelt- und Klimaschutz auswirken. Inwieweit sollten Ihrer Meinung nach Umwelt- und Klimaschutz in den folgenden Bereichen berücksichtigt werden?“ der Bereich der Sozialpolitik von den Befragten mit 18% als unbedeutendster Bereich innerhalb der politischen Ressorts genannt wird (vgl. Gellrich et. al. 2021). Demnach wird sowohl in der Innen- wie auch in der Außenwahrnehmung der soziale Sektor kaum mit ökologischen Fragen in Verbindung gebracht. Dies ist eine schlechte Ausgangslage für eine mögliche „grüne“ Transformation.
Auf Basis dieser Ausgangslage habe ich dann vier Narrationen vorgestellt, die mögliche Ansatzpunkte für eine Transformation zu mehr Ökologie im Sozialsektor beschreiben. Realpolitische Erzählung: Transformation durch Sozialverwaltung und die 17 SDGs als neues Steuerungsparadigma
Eine Ökologisierung der Sozialen Arbeit wird entlang der 17 Sustainable Develoment Goals der UN aus dem Jahre 2015 umgesetzt werden, bei der 193 Länder die AGENDA 2030 unterschrieben haben und einem gemeinsamen Fahrplan für die internationale, europäische und bundesrepublikanische Umsetzung eines integrierten ökologischen, sozialen und ökonomischen Nachhaltigkeitskonzepts zugestimmt haben. Obwohl es zahlreiche Argumente gegen die Konzeption und Gestaltung der AGENDA gibt, könnte die Konvention ähnliche paradigmatische Bedeutung für die Soziale Arbeit entfalten wie die UN-Kinderrechtskonvention (1992) oder die UN-Behindertenrechtskonvention aus dem Jahre 2008 (vgl. Retkowski 2022).
Reformatorische Erzählung: Transformation durch stärkere Berücksichtigung von Impulsen sozialer Bewegungen
Soziale Arbeit hat schon immer vielfältige Wurzeln in Sozialen Bewegungen und wird nach wie vor von diesen wesentlich getragen (Wagner 2009). Ein Beispiel hierfür aus dem ökologischen Bereich sind Projekte der Sozialen Landwirtschaft, welche soziale personenbezogene Dienstleistungen mit landwirtschaftlicher, forstwirtschaftlicher, gartenbauwirtschaftlicher Produktion und/oder der Kulturlandschaftspflege verknüpfen, die in der Regel ökologisch ausgerichtet ist (Retkowski & van Elsen 2020). Obwohl diese alternativen Projekte seitjeher aus professionstheoretischer Perspektive oftmals zu Recht kritisch betrachtet werden (vgl. etwa Heiner 1979), bilden sie dennoch einen Ansatzpunkt die soziale und die ökologische Frage zu integrieren, der noch zu wenig Berücksichtigung gefunden hat.
Das Narrativ des New Materialism: Theoretisierung von kollaborativen Mulitspeziesexistensweisen
Eine Dezentrierung von rein sozialen Dimensionen hin zu einer systematischen theoretischen und praktischen Berücksichtigung von nichtmenschlichen Existenzweisen verfolgen die unterschiedlichen Vertreter*innen des sogenannten New Materialism. Diese Theorierichtung geht davon aus, dass Materie bzw. nicht menschliche Andere nicht inert, also träge und passiv ist, sondern es vielfältige Wechselwirkungen und Interdependenzen gibt, ohne die die Menschheit nicht existieren kann. Mit einer ethischen Forschungsorientierung des „Staying with the trouble“ geht es um die Suche nach Denkweisen und Praktiken, wie auf einem „beschädigten Planeten überlebt werden kann“ (Haraway 2018, S. 54). Ziel ist es die grundlegenden Voraussetzungen des Zusammenlebens neu zu denken und nach kollaborativen Multispeziesexistenzweisen, die nicht von einem „menschlichen Exeptionalismus“ (Braidotti 2014) ausgehen, zu denken. Für Soziale Arbeit hieße dies zu überlegen, ob Begrifflichkeiten wie z.B. „aneignen“ oder „empowern“ nicht auch Teil der Unterwerfungslogik von Natur in der Moderne darstellen und statt dessen Konzepte wie „sich die Welt vergegenwärtigen“ oder „sich verwandt machen“ anschlussfähig wären.
Das Narrativ einer ökologisch-transformativen Wissenschaft
Das Wissen zur Notwendigkeit einer ökologischen Wende kommt aus den Naturwissenschaften. Dennoch ist fraglich, welche Verantwortung den Sozialwissenschaften im Allgemeinen und der Disziplin der Sozialen Arbeit im Besonderen angesichts der globalen Klima- und Biodiversitätskrise zukommt. Hier scheinen mir drei Ansatzpunkte bedeutsam: Erstens kann das Wissenschaftssystem selber ressourcenschonender gestaltet werden (ein Hinweis dafür sind z.B. die vielfach in Mailsignaturen auffindbaren Aufforderungen wie z.B. „erst denken, dann drucken“). Viel wichtiger wäre es aber – zweitens – eine Sozialtheoriefolgenabschätzung vorzunehmen und zu überlegen, welche Auswirkungen das System von Kategorien, das wir verwenden, für gesellschaftliche Naturverhältnisse hat. Schließlich wird allgemein konstatiert, dass die ökologische Wende weniger ein Erkenntnis- als ein Vermittlungsproblem darstellt. Die Anforderungen an Wissenschaft scheinen sich daher zu verändern. Mit der steigenden Bedeutung von „Wissenskommunikation“, und „Wissens-Praxis-Transfer“ ist demnach drittens plötzlich die Erwartung verbunden, aktiver Teil von Wandlungsprozessen zu sein. Für den wissenschaftlichen Alltag heruntergebrochen stellt sich dann die Frage, wieviel Wochenarbeitszeit denn dann für diese Transferarbeit verwendet werden soll?
Ausblick
Eine ökologische Wende in der Sozialen Arbeit tut not. Hier wurden vier mögliche Ansätze diskutiert. Viele weitere sind möglich. Packen wir es an. J
Literatur:
Braidotti, Rosi. (2014). Posthumanismus. Frankfurt am Main: Campus.
Evers, Adalbert, Heinze, Rolf G., & Olk, Thomas. (2011). Einleitung: Soziale Dineste – Arenen und Impulsgeber sozialen Wandels. In Adalbert Evers, Rolf G. Heinze, & Thomas Olk (Eds.), Handbuch Soziale Dienste (pp. 9-32). Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Gellrich, Angelika, Burger, Andreas, Tews, Kerstin, Simon, Clara, & Seider, Silki. (2021). 25 Jahre Umweltbewußtseinsforschung im Umweltresort. Langfristige Entwicklungen und aktuelle Ergebnisse Retrieved 5.5.2022, from Umweltbundesamt https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/25-jahre-umweltbewusstseinsforschung-im
Haraway, Donna J. (2018). Unruhig bleiben. Die Verwandschaft der Arten im Chtuhuluzän. Frankfurt am Main: Campus.
Heiner, Maja. (1979). Die „Grünen“ und die Sozialarbeit – Perspektiven einer zukünftigen sozialen Arbeit aus der Sicht der ökologischen Bewegung. Neue Praxis(2), 147-162.
Hensky, Rachel, Kautz, Sarah, Ploß, Lysann, Reich, Cölestine Zoe, Retkowski, Alexandra, & Töpfer, Jonathan. (2022). Umsetzung der 17 SDGs in Einrichtungen der Sozialen Arbeit – eine quantitative und qualitative Exploration. In Tino Pfaff, Barbara Schramkowski, & Ronald Lutz (Eds.), Klimakrise, Sozialökologischer Kollaps und Klimagerechtigkeit. Winheim Basel: Beltz Juventa.
Retkowski, Alexandra, & van Elsen, Thomas. (2020). Soziale Landwirtschaft als Impulsgeber. B & B Agrar(3), 35–36.
Wagner, Leonie. (2009). Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen – Einleitung. In Leonie Wagner (Ed.), Soziale Arbeit und Soziale Bewegungen (S. 9-21). Wiesbaden VS Verlag für Sozialwissenschaften
Alexandra Retkowski
Prof.in Dr. disc. pol. Alexandra Retkowski ist Hochschullehrerin für Soziale Dienstleistungen in strukturschwachen Regionen an der Brandenburgisch Technischen Universität Cottbus Senftenberg (BTU).
Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind: Kinderschutz mit Schwerpunkt auf Fragen der sexualisierten Gewalt, sozialökologische Wandlungsprozesse, Alters-, Geschlechter- und Generationenforschung.