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Quelle: Freestock

Geschlechtergerechtigkeit, ja aber wie?

Die pädagogische Irrelevanzdemonstration von Geschlecht in Kindertageseinrichtungen

Geschlecht als Kategorie, ist immer wieder im Fokus der Bearbeitung von pädagogischen Institutionen (Kubandt, 2016; Rose & May, 2014). Oft wird die Kategorie als Querschnitts- oder aber Sonderthema verhandelt. Laut Lotte Rose gibt es kaum einen so sperrigen Fachstandard, der immer wieder Konjunkturen unterworfen wird und in Kindheitspädagogik wie auch Sozialer Arbeit wiederkehrend verhandelt wird (Rose, 2013). In Kindertageseinrichtungen bezieht sich der Diskurs vor allem auf die Rezeption der PISA-Ergebnisse um 2000, die Ungleichheit im deutschen Bildungssystem attestierten. Unter anderem bezogen sich diese strukturell verteilten Ungleichheiten auf bestimmte Gruppen von Jungen* wie auch Mädchen* (Sitter, 2016). Diese Feststellungen führten zu Projekten, die personalpolitisch vor allem in der Gewinnung von männlichen* Fachkräften in Kindertageseinrichtungen fokussiert waren (Rose & Stibane, 2013). Die Frage, welche Deutungsmuster in kindheitspädagogischen Betreuungseinrichtungen bei den Fachkräften zu Geschlecht vorliegen und welche mögliche Relevanz dies für den Alltag, sowie Aus- und Fortbildung habe, wurde damit weitestgehend nicht mehr gestellt (Rohde & Sabla, 2013). 

Zur Studie

In meinem Promotionsprojekt habe ich diese Frage versucht zu beantworten. Hierzu habe ich verschiedene Kindertageseinrichtungen besucht und pädagogische Fachkräfte mit unterschiedlichen Qualifizierungen beobachtet, Videos aus ihrem Alltag erstellt und anschließend Stimulated-Recall-Interviews geführt.

Die Ergebnisse

Der Umgang mit geschlechtsbezogenen Deutungsmustern ließ sich in der Analyse der 12 Interviews mit drei Strategien beschreiben: individualisierend,  affirmativ-normalisierend und räumlich egalisierend. Durch die jeweiligen Strategien wird eine scheinbare Irrelevanz von Geschlecht im pädagogischen Alltag demonstriert. Die verschiedenen Strategien betreffen alle Akteur*innengruppen: Fachkräfte, Kinder und Sorgetragende, sowie verschiedenen Handlungsebenen: Verwaltungshandeln, organisatorisches Handeln und Interaktionshandeln. Die zwölf Interviewpartner*innen unterscheiden sich in ihren Verständnissen von Geschlecht. So werden stark biologistische Annahmen ebenso vertreten, wie auch extrem konstruktivistische, sowie Positionen dazwischen. Dennoch nutzen alle Interviewpartner*innen die drei Strategien gleichermaßen.

In der individualisierenden Strategie wird Geschlecht als bereits bearbeitet hergestellt, indem die Fachkräfte darauf verweisen, dass die Bearbeitung von strukturellen Kategorien wie Geschlecht nicht erforderlich wird, wenn das Kind nur individuell betrachtet wird. 

Die affirmativ-normalisierende Strategie setzt als Grundannahme die Differenz durch Geschlecht voraus. Woher diese Differenzen rühren, ist je nach Einstellung der Fachkraft aus biologistischer oder konstruktivistischer Perspektive begründet. Unberührt davon bleibt jedoch die Annahme, dass unterschiedliches Verhalten aus diesen Differenzen resultiert, das normalisiert wird. In den eher konstruktivistisch geprägten Verständnissen wird dies als positiv in der eigenen Wahl betrachtet und darüber normalisiert. In eher biologistisch geprägten Verständnissen werden die Differenzen als Notwendigkeit für Biologie und Evolution verstanden und darüber als positiv besetzt verstanden. Geschlecht wird auch in dieser Strategie nicht bearbeitungsnotwendig, da die Differenz erwünscht ist.

Im Rahmen der räumlich-egalisierenden Strategie erkennen die pädagogischen Fachkräfte die Bedeutung der Diskriminierung durch Geschlecht als nicht relevant an, da sie davon ausgehen, dass der Raum Krippe davon nicht betroffen sei. Krippe wird damit als Insel konstruiert, die mit den Einflüssen von außen umgehen und denen begegnet werden muss, jedoch die Differenzen selbst in der Krippe keine Rolle mehr spielen, weil dies ein egalitärer Raum sei. Durch diese Annahme wird die Handlungsoption der pädagogischen Fachkräfte auf das außen eingeschränkt und innerhalb des Raumes Krippe wird die Bearbeitung von Geschlecht und mögliche Diskriminierung nicht als relevant erachtet. 

Strategien als Bewältigung der Unsicherheiten

Diese drei Strategien sind als Bewältigung der Unsicherheiten im Umgang mit Geschlecht zu verstehen. Als Gemeinsamkeit wurde festgestellt, dass Geschlecht in pädagogischen Kontexten keine Relevanz zugesprochen werden kann, da diese sonst bearbeitet werden müsste. In den Interviews wird deutlich, dass die Fachkräfte nicht wissen, wie sie Geschlecht zum (Bildungs-)thema machen sollen und ab wann sie geschlechtergerecht gearbeitet haben. Vielmehr wurde die Forschende als Expertin im Prozess nach methodischem Wissen der Umsetzung befragt. Währenddessen wurden eigene Leistungen wie beispielsweise das Umdichten von Liedern nicht als pädagogische Entscheidung verstanden.

Was bedeutet das für die Wissenschaft?

Ein Sprechen ÜBER die pädagogische Praxis im Rahmen von Forschungsarbeiten ist riskant. So ist bekannt, dass ein Dialog zwischen den Sphären Praxis und Wissenschaft befruchtend wie auch Hierarchien dekonstruierend wirken kann. Zudem wird die akademische Wissensproduktion in ihrer eigenen Reflexivität angefragt, wie mit der Hervorbringung von Kategorien im Rahmen von Reifizierungen umgegangen wird, aber auch welche Konsequenzen bestimmte Handlungsempfehlungen in der Wissenstransformation haben könnten (Garbade, 2020; Garbade & Kerle, 2021).

In einer reflexiven und selbstkritischen Perspektive sind die Erkenntnisse der Studie als ein Ergebnis von Wissenstransformation und der gesellschaftlichen Bearbeitung von Anforderungen zu verstehen. Die programmatischen und politischen Anforderungen nach Geschlechtergerechtigkeit in Kindertageseinrichtungen sind insbesondere seit der Rezeption der PISA-Ergebnisse von 2000 in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt. Geprägt von binären und teilweise stereotypen Annahmen über Care-Tätigkeit wie auch die Bildung von Kindern wurden Programme installiert, die Binaritäten zur Folge hatten. Diese wurden im wissenschaftlichen Diskurs als solche erst spät thematisiert und auch heute noch erlangen die zentralen Positionen wenig Aufmerksamkeit. Die Frage nach Professionalisierungsfolgen kann mit Blick auf die Ergebnisse der Studie eine neue Relevanz erhalten (Neumann, 2014). Wie gelangt Wissen in den Diskurs und welche Setzungen werden programmatisch übernommen (Garbade, 2023)? 

Was bedeutet das für die Praxis?

Noch mehr Aufträge an die Praxis zu verteilen ist sicher nicht im Sinne der voran gestellten Positionen. Die Wege in der akademischen Wissensproduktion sind langwierig und die pädagogischen Fachkräfte stehen jeden Tag unter dem Handlungsdruck auf Interaktionen, konzeptionelle Belange und Anforderungen zu reagieren. So kann die Verantwortung für die eigene Reflexivität und die Akzeptanz der Antinomien des Handels zu einer neuen Perspektive bei Fachkräften führen, die dafür Ressourcen aufbringen können und wollen (Focks, 2016). Das Dilemma der Differenz lässt sich dabei nicht lösen, das ist hinreichend bekannt. Die Balance in Unsicherheit auszuhalten und sich damit zu befassen, wie die persönlichen Einstellungen zu Geschlechterreflexivität und -gerechtigkeit sind, erfordert Energie und Wunsch der Auseinandersetzung. Und auch wenn es sich nach Umwegen anfühlt und nicht standardisiert werden kann, ist Reflexivität des eigenen Standortes ein fruchtbarer Weg, sich der pädagogischen Bearbeitbarkeit von Geschlechterfragen zu nähern.


Literaturverzeichnis

Focks, P. (2016). Starke Mädchen, starke Jungen: Genderbewusste Pädagogik in der Kita. Herder. http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=4713462 

Garbade, S. (2020). Genderkonstruktionen bei Fachkräften in der Krippe – methodische Konsequenzen für eine geschlechterreflexive Haltung in einem schwierigen Themenfeld. In L. Rose & E. Schimpf (Hrsg.), Buchreihe Theorie, Forschung und Praxis der sozialen Arbeit: Band 19. Sozialarbeitswissenschaftliche Geschlechterforschung: Methodologische Fragen, Forschungsfelder und empirische Erträge (1. Aufl., S. 263–277). Verlag Barbara Budrich.

Garbade, S. (2023). Pädagogische Irrelevanzdemonstration als Professionalisierungsfolge der Bearbeitung von (Geschlechter-)Differenz. In P. Cloos, M. Jester, J. Kaiser-Kratzmann, T. Schmidt & M. Schulz (Hrsg.), DGfE-Kommission Pädagogik der frühen Kindheit. Kontinuität und Wandel in der Pädagogik der frühen Kindheit: Handlungsfelder, pädagogische Konzepte und Professionalisierung (1. Aufl., S. 242–255). Beltz Juventa.

Garbade, S. & Kerle, A. (2021). Klassismusreflexivität als Forschungsperspektive. Forschungsprogramm für die Kindheitspädagogik? Forum Wissenschaft38(4), 31–34.

Kubandt, M. (2016). Geschlechterdifferenzierung in der Kindertageseinrichtung: Eine qualitativ-rekonstruktive StudieStudien zu Differenz, Bildung und Kultur: Band 3. Verlag Barbara Budrich. http://content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783847409021 

Neumann, S. (2014). Bildungskindheit als Professionalisierungsprojekt. Zum Programm einer kindheitspädagogischen Professionalisierungs(folgen)forschung. In T. Betz & P. Cloos (Hrsg.), Kindheitspädagogische Beiträge. Kindheit und Profession: Konturen und Befunde eines Forschungsfeldes (S. 145–159). Beltz Juventa.

Rohde, J. & Sabla, K. P. (2013). Professionell qua Geschlecht? (De)Thematisierungen von Professionalität und Geschlecht in der aktuellen Fachdebatte. In K. P. Sabla & M. Plößer (Hrsg.), Gendertheorien und Theorien sozialer Arbeit: Bezüge, Lücken und Herausforderungen (S. 131–143). Budrich.

Rose, L. (2013). Genderqualität in der Sozialen Arbeit – Fachstandrad mit sperrigem ‚Unterleben‘. In K. P. Sabla & M. Plößer (Hrsg.), Gendertheorien und Theorien sozialer Arbeit: Bezüge, Lücken und Herausforderungen (S. 23–39). Budrich.

Rose, L. & May, M. (Hrsg.). (2014). Geschlechterforschung für die Praxis: Band 1Mehr Männer in die Soziale Arbeit!? Kontroversen, Konflikte und Konkurrenzen. Verlag Barbara Budrich. http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783847403159 

Rose, L. & Stibane, F. (2013). Männliche Fachkräfte und Väter in Kitas: Eine Analyse der Debatte und Projektpraxis ; eine Expertise der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF) (2013. Aufl.). Eltern: Bd. 35. DJI Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. http://www.khsb-berlin.de/fileadmin/user_upload/Bibliothek/Ebooks/1%20frei/Exp_Rose.pdf

Sitter, M. (2016). PISAs fremde Kinder: Eine diskursanalytische StudieTheorie und Praxis der Diskursforschung. Springer VS. 

Autor*innen-Profil
Svenja Garbade

Dr. Svenja Garbade ist an der Universität Hildesheim als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Lehre und dem Forschungsprojekt DivSpace tätig. Außerdem ist sie Mitherausgeberin des Blogprojekts DiverseKindheiten.de. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kindheitspädagogik, Professionalisierung, Diversitätsreflexive Materialien, Hochschuldidaktik, Geschlechterfragen.

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