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Nicht Corona, sondern die Verhältnisse machen Kinder arm

„Corona macht Kinder arm“ titelte die taz am 23. Juli 2020. Kommentiert wurde unter dieser Überschrift eine aktuelle Pressemitteilung der Bertelsmann Stiftung zu der Studie „Materielle Unterversorgung von Kindern“. Dass Kinder wie auch Menschen anderer Altersgruppen in einem als strukturell reich anzusehenden Land wie der Bundesrepublik Deutschland unter Armutsbedingungen leben, wird nicht nur in dieser Studie, sondern regelmäßig mit dem Erscheinen der Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung auf die politische und öffentliche Agenda gesetzt – und dann im politischen Alltagsgeschäft doch wieder schnell vergessen oder aber individualisiert. Ignoriert bleibt zuweilen, dass in der Regel nicht diejenigen, die unter ökonomischen, kulturellen und sozialen Armutsbedingungen leben müssen, verantwortlich sind für ihre prekäre beziehungsweise prekarisierte Lebenslage, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Das sieht anscheinend jedoch Tobias Schulze von der taz anders. Für ihn ist es die Sars-CoV-2 Pandemie, die die Zahl der Kinder in den Armutsstatistiken steigen lässt. Selbstverständlich ist nicht zu verleugnen, dass Menschen Arbeit durch die Pandemie verloren haben oder in Kurzarbeit geschickt wurden. Und sicherlich stieg die Anzahl der in finanziellen Armutslagen lebenden Menschen in den zurückliegenden Monaten an. Für Armut jedoch die Pandemie verantwortlich zu machen, ist eine Naturalisierung der sozialstrukturellen Verhältnisse, die soziale Ungleichheiten und Armut erst hervorbringen.

Damit bewegt er sich in einem Argumentationsmilieu, das jüngere Studien als typisch, aber problematisch diskutieren. Pädagog*innen in Kindertageseinrichtungen gehen beispielsweise explizit oder implizit davon aus, dass die materielle und sozial-emotionale Versorgung der Kinder durch die Eltern aufgrund der sozialstaatlichen Alimentierungen gewährleistet ist. Armutsphänomene bei Kindern nehmen sie getrennt von der Armutslage der Eltern und in einer Ursache-Wirkungs-Beziehung wahr, weil es „guten“ Eltern trotz weniger Ressourcen ja gelänge, ihre Kinder angemessen zu versorgen und ihnen die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu ermöglichen, wenn sie selbst „die richtigen Prioritäten setzen“ würden. Da „manche Eltern selbst wenig Bezug zu Kulturveranstaltungen haben und schon deswegen ihre Kinder nicht mit ins Theater nehmen“, so ist in dem taz Beitrag zu lesen, hat „der Verzicht“ nicht immer mit „Geldnot zu tun“. Neben der normativen Rahmung der Nicht-Wahrnehmung hegemonialer Kulturangebote als bedauernswerten Verzicht der „armen Kinder“, durchziehen derartige Argumentationen eine Kulturalisierung sozialer Ungleichheit. Nicht die materielle Unterversorgung sei das Problem, sondern der fehlende Bezug der Eltern zu Theater und Museum.

Die Vorstellung „guter“ Elternschaft zeigt sich in der gesamten Diskussion um die „Folgen der Pandemie“ in Bezug auf die Situation von Kinder und Jugendlichen auf höchst raffinierte Weise. Vielerorts, so in der Bertelsmann-Studie selbst, im taz-Kommentar, aber auch in wissenschaftlichen Stellungnahmen, wird darauf hingewiesen, dass die „Homeschooling“-Situation in Corona-Zeiten soziale Benachteiligungen bestimmter Kinder verschärft, ohne die Bedingungen, wie Unterricht und Lernen insgesamt organisiert ist und wird, zu reflektieren. Als Gründe dafür werden in der Bertelsmann-Studie die fehlende materielle Ausstattung mit Wohnraum und internetfähigen Geräten angegeben. Die Hinweise auf die fehlende Ausstattung und damit unzureichenden Teilhabemöglichkeiten der Familien am gesellschaftlichen Leben, die gemessen werden an einem normativ festgesetzten, „bürgerlichen Lebensstandard“, verzichten darauf, die sozialen Verhältnisse und kulturellen Orientierungen der Gesellschaft selbst zu problematisieren.

Auch unabhängig von der Corona Pandemie verschärften sich die sozialen Ungleichheiten. Kinder und Jugendliche werden benachteiligt durch die Arrangements von Schule, Unterricht und Lernen, wenn diese sich nicht durchgängig darauf einstellen, niemanden zurückzulassen. Sie werden aber auch benachteiligt, wenn sozialstaatliche Hilfesysteme nicht fähig oder willig sind, den notwendigen Internetzugang oder das eigene Tablett für die Teilnahme am Unterricht zu finanzieren. Der öffentliche Diskurs betreibt das Spiel einer Kulturalisierung und Individualisierung von sozialen Ungleichheiten. Diese Sicht auf die Welt empfiehlt, die Debatte um Homeschooling als einen Aspekt der Corona-Pandemie im „besten Falle“ als eine Variante der Pädagogisierung sozialer Ungleichheiten zu verstehen. Im schlechtesten Falle steht sie für die erneute Individualisierung und Responsibilisierung von Eltern, um Kindern das Homeschooling in Corona-Zeiten durch bestmögliche Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Scheitern die Eltern trotz vermeintlich guter Rahmenbedingungen, wird das elterliche Verhalten kulturalisiert oder die sozialen Ungleichheitsverhältnisse mit Hinweis auf die unvermeidliche Pandemie naturalisiert.

Ignoriert bleibt in dieser Diskussion, dass die Zahl der Kinder, die in relativen Armutslagen aufwachsen, kontinuierlich seit anderthalb Jahrzehnten steigt – auch ganz ohne Pandemie.

Zum Weiterlesen siehe auch: Simon, Stephanie, Prigge, Jessica, Lochner, Barbara, & Thole, Werner (2019). Deutungen von Armut. Pädagogische Thematisierungen von und Umgangsweisen mit sozialer Ungleichheit in Kindertageseinrichtungen. neue praxis, 49(5), 395-414.

Zitiervorschlag: Simon, S., & Thole, W. (2020). Nicht Corona, sondern die Verhältnisse machen Kinder arm. Institut für Theorie und Empirie des Sozialen e.V. https://doi.org/10.48747/ITES-WERKSTATT-BLOG_20200726_1

Autor*innen-Profil

Stephanie Simon ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit (ISEP) der TU Dortmund.
Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Armut und soziale Ungleichheiten, Deutungen von Bildung & Erziehung, Kindheitsforschung, qualitativ-rekonstruktive Sozialforschung.

Autor*innen-Profil

Prof. Dr. phil. habil. Werner Thole war bis 2021 Hochschullehrer für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung am Fachbereich Humanwissenschaften der Universität Kassel.
Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind: Jugend und Kindheit, Kinder- und Jugendhilfe, Professionalisierungs-, Kindheits- und Jugendforschung, Theorie und Praxis der Sozialpädagogik, Strukturen und Praktiken pädagogischen Handelns.

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Dieser Beitrag hat 3 Kommentare

  1. Julian Sehmer

    Die darüber aufgerufene Perspektive ist für taz-Verhältnisse dann aber doch erstaunlich (problematisch). Schon die Wahl des Beitragstitels in der taz mag vielleicht gut geeignet sein, die Aufmerksamkeit von Leser*innen zu bekommen. Die einzige Folge aus der Darstellung wäre dann aber: „einfach Abwarten bis die Pandemie vorbei ist und das Thema hat sich erledigt“. Was also vielleicht zum Lesen anmimiert, animiert umso weniger zum Handeln…